Der Vize-Hausmeister schickte mich zum Stadtarchiv, ein Buch abholen.
Ich lief Umwege, am ehemaligen Gefängnis vorbei. Sie bauen um, metallische Dornenkronen schmücken noch provokative Teile der Fassade.
An der Albini Straße biege ich links ab, ich will mir noch einmal das Haus ansehen, in dem Dieter T. so viele Jahre wohnte. Seit einiger Zeit soll er im Altenheim sein. Seine ehemalige Freundin, eine Ex-Indianerin, sehe ich ab und zu auf ihrem ganglosen Fahrrad. Zweimal habe ich mit ihr geschlafen, sie roch nach Zimt gemischt mit Kräutern der Provence.
Die Eierbecher sind aus den beiden Schaufenstern seiner Parterre-Wohnung verschwunden. Ein Fahrradladen, direkt gegenüber, hat wegen Urlaub geschlossen. Der Besitzer hat einen Billardraum Zuhause.
Ich weiß nicht warum Dieter T. Eierbecher sammelte und wie in einem Schaufenster ausstellte. Ich vermute, er hat sie als Souvenirs aus dem Ausland gebracht.
Er arbeitete als Fotograf in der Röntgenabteilung der Universitätsklinik. Als junger Mann kam er aus der DDR, kurz bevor die Mauer errichtet wurde.
Klaus Schlesinger, sein bester Freund, schlief immer bei ihm wenn er den Westen besuchte. Er war im Besitz eines literarischen Sonderpasses.
Einmal wohnte ich einer Lesung von ihm bei, in der Cardabella Buchhandlung. Später, in den 90er Jahre sah ich ihn zufällig noch einmal, in der Kneipe „Zum Gebirge“, in der Nähe der Stephanskirche. Er saß am selben Tisch, schräg mir gegenüber. Ich erinnere mich an einen Satz aus einem Buch von ihm: „Es gibt zwei Sorten von Menschen: die die Tapezieren müssen und die die die Frauen küssen“.
Ich fragte mich, ob er Dieter jetzt im Altenheim besuchen würde, auch wenn er von ihm unerkannt bliebe … Am selben Abend erfuhr ich, dass er schon seit neun Jahren tot ist.
Es gibt keinen Aufzug in der Stadtbibliothek, ich ging die Treppe hoch zum zweiten Stock, wo das Stadtarchiv sich eingenistet hat. Es machte mir aber nicht aus, weil die Stufen breit und würdevoll sind.
Erst klopfte ich an der Tür, dann sah ich die Klingel. Sie öffnete sich quasi automatisch, wie bei meinem Zahnarzt. Da drin agierten im engen Raum Angestellte und eifrige, besonders neugierige Suchende. Ich drückte mein Anliegen aus, die von mir befragte Person unternahm entgegenkommende, erfolglose Handlungen, wandte sich dann an eine über ihr stehende Person, diese wiederum führte zwei interne Telefongespräche durch: nichts. Da rief ich den Vize-Hausmeister an und er erklärte mir, dass ich es falsch verstanden hätte, ich hätte ein Buch zum Stadtarchiv bringen sollen ...
Ich lief also zurück, am Kurfürstlichen Schloss vorbei, wo große Plakate eine esoterische Tagung ankündigten. Öffentliche Gebäude haben einen Hang zur Prostitution. Dann kam die große grüne Anlage mit dem Baum, unter dem ich einst Claudia Moroni küsste. Hier wird in einem Monat eine Schlittschuhbahn aufgebaut, im Nachhinein genau so irreal wie die ziehenden Wolken.
Ich ging so langsam wie möglich um diese Aufgabe zu verrichten, für die ich nicht extra bezahlt werde, für die sich niemand bedankt. Langsam habe ich den Servilismus aus meiner Seele vertrieben.
Auf dem Weg zurück zu meiner Galeere, lief ich unter dem Dativius Victor Bogen durch. Über zehn Jahre habe ich unter diesem Bogen gestanden, unter dem Original, denn dieser hier ist nur eine Replik.
Ein Missverständnis
Hola Carlos,
mir gefällt dieser Gang durch die Stadt sehr, wie du unscheinbare Details beleuchtest mit Blicken in die Vergangenheit und mit selbstreflektiven Gedanken verwebst sowie kritischen Seitenhieben ("Öffentliche Gebäude haben einen Hang zur Prostitution.").
Gelungen!
Saluditos
Mucki
mir gefällt dieser Gang durch die Stadt sehr, wie du unscheinbare Details beleuchtest mit Blicken in die Vergangenheit und mit selbstreflektiven Gedanken verwebst sowie kritischen Seitenhieben ("Öffentliche Gebäude haben einen Hang zur Prostitution.").
Gelungen!
Saluditos
Mucki
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