... lag auf dem Parkett im Wohnzimmer meiner Urgroßmutter, direkt vor meinen Füßen. Ich hatte vor der Wohnungstür meine Schuhe abgestreift und saß jetzt in Socken auf einem der drei Ledersessel, erblickte den winzigen Stein, während Uroma den Flur putzte. Wir nannten sie Oma Hilde, obwohl sie mit vollem Namen Hildegard hieß. Vor fünf Jahren, damals war ich zwölf, hatte ich sie das letzte Mal besucht. Seitdem war sie zwischendurch zweimal bei meinen Eltern und mir auf Besuch gewesen.
Eigentlich war der Stein nur ein Split. Aber er stach sofort ins Auge auf dem glänzenden Boden, wie ein Fremdkörper in dieser geordneten rechtwinkligen Wohnlandschaft. Ich schmiss den Störenfried in die Hausmülltonne der engen Küche.
Nun kam Oma Hilde herein, in ihrer Linken hielt sie noch den Putzlappen und suchte mit ihren hervorquellenden Augen aus einem hohlwangigem Gesicht den Boden vor mir ab nach diesem zwergenhaften Schotterbröckchen. Sie sagte, sie hätte ihn dort liegenlassen und wolle ihn nun nach draußen bringen zu den anderen an die Straße. Der Heizungsableser habe ihn reingeschleppt. Kein anderer habe ihre Wohnung mit Straßenschuhen betreten.
Ich sagte ihr, dass ich das Steinchen bereits entsorgt hätte in dem Müllsack in der Küche. Oma Hilde, die eben noch in beflissenen Körperbewegungen agierte, erstarrte augenblicklich. Ihre Augen signalisierten mir ihren Schrecken. Seit mehr als einem halben Jahrhundert habe sie korrekt den Müll getrennt, und nun habe ich dies geordnete Leben mit einem Streich beendet. Ich bemühte mich, sie zu beruhigen, denn es handele sich schließlich nur um einen Split mit einer Oberfläche von ein paar Quadratmillimetern. Jedoch darunter schienen sich unendlich mehr Drittel als unter der Spitze eines Eisbergs zu verbergen.
Oma Hilde kramte eine Plane aus dem Keller hervor, welche die Maler im Sommer bei der Renovierung hatten liegen lassen. Sie breitete die Folie im Wohnzimmer aus. Die Küche wäre dazu zu klein gewesen und draußen auf der Terrasse war es regnerisch und kalt. Dann kippte sie den Inhalt der Mülltonne aus und verteilte ihn, gab mir ein Paar Latexhandschuhe und forderte mich auf, nach dem Steinchen zu fahnden, und zwar akribisch in jeder Falte eines zerknitterten Papiertaschentuchs.
Nachdem ich jedes Teil sorgfältig untersucht hatte, beförderte ich es zurück in die Tonne. Am Ende hatte ich kein Steinchen Bauschutt entdeckt. Oma Hilde war betrübt, räumte die Plane fort und bereitete uns eine Kaffeetafel mit Selbstgebackenem. Wir lenkten unser Gespräch weit weg von dem Steinchen, das uns wie ein riesiger Granitfelsen auf der Seele lag; unterhielten uns darüber, wie es meinem Vater und meiner Mutter ging, als plötzlich die Sonne die Regenwolken durchbrach und aufs Parkett strahlte. Und wenig später strahlte auch Oma Hilde, denn sie hatte ein winziges Steinchen ausgemacht, das einen riesigen Schatten geworfen hatte, unweit von der Stelle, wo es ursprünglich gelegen hatte.
Ich wunderte mich, wie es dahinkommen konnte. Oma Hildes Welt nahm wieder ihre alte Ordnung an. Ich verbrachte das Steinchen nach draußen an die Straße zu den anderen. Als ich das Splitterchen so zwischen den Fingern hielt, kam es mir so vor, als hätte es eine etwas länglichere Form als das, welches ich in den Müll transportiert hatte, behielt es aber für mich.
Die Nacht zum Sonntag konnte ich nicht einschlafen auf Oma Hildes Kannapee, wälzte mich unruhig umher in einem Meer von moralischen Missempfindungen. Ich musste ihr gegenüber aufrichtig sein und ich teilte ihr mit, dass der Stein nicht der Stein gewesen sei, sondern ein ähnlicher, der sich vielleicht in der Malerfolie versteckt gehalten habe. Ich wollte nochmals den Müll durchsuchen. Oma Hilde winkte ab. Die Nacht zum Montag durchstöberte ich heimlich wiederholt alles, jedoch ohne Erfolg. In meiner Vorstellung war die Oberfläche des Gesuchten in den Nanobereich geschrumpft, während seine Innenfläche gigantische Dimensionen angenommen hatte.
Bei meinem Abschied in der Frühe sah ich den Müllwagen wegfahren, nachdem Urgroßmutter die Tonne heraus gestellt hatte. Einen Monat später war Oma Hilde gestorben. Soweit ich weiß, wurde der Stein niemals gefunden. Wir trugen ihn innerlich mit uns herum, bis ans Ende, schweren Herzens.
Der Stein des Anstoßes ...
Hallo Kurt,
die Idee und die in der Geschichte enthaltene Klimax gefällt mir. Diesen Part
würde ich jedoch der Oma zuschreiben und nicht dem Erzähler.
Saludos
Mucki
die Idee und die in der Geschichte enthaltene Klimax gefällt mir. Diesen Part
Kurt hat geschrieben:Jedoch unter der Oberfläche verbargen sich unendlich mehr Drittel als unter der Spitze eines Eisbergs.
würde ich jedoch der Oma zuschreiben und nicht dem Erzähler.
Saludos
Mucki
Hallo Kurt,
mir gefällt die Geschichte auch, aber ich habe eine Beanstandung zum Anfang:
Das hat in mir die Erwartung geweckt, dass gleich etwas Großes passiert - man hat ja den Eindruck, der Erzähler "starrt" minutenlang. Und was passiert dann? Er schmeißt den Stein weg.
Mir würde das vielleicht gar nicht so auffallen, wenn ich nicht im Lauf der Jahre in Schreibforen (vor allem in der Leselupe) unzählige Texte gelesen hätte, die damit beginnen, dass der Erzähler oder die Erzählerin etwas "anstarrt". Sei es das Spiegelbild, das leere Portemonnaie oder die Zimmertür. Und dann geht es irgendwie weiter, manchmal wird es noch eine nette Geschichte, aber warum am Anfang "gestarrt" wurde, wird dem Leser nicht erklärt. Es macht sich halt nur so gut im ersten Absatz, dass jemand da steht (oder sitzt) und starrt ...
mir gefällt die Geschichte auch, aber ich habe eine Beanstandung zum Anfang:
Ich hatte vor der Wohnungstür meine Schuhe abgestreift und saß jetzt in Socken auf einem der drei Ledersessel, starrte auf den winzigen Stein, während Uroma den Flur putzte
Das hat in mir die Erwartung geweckt, dass gleich etwas Großes passiert - man hat ja den Eindruck, der Erzähler "starrt" minutenlang. Und was passiert dann? Er schmeißt den Stein weg.
Mir würde das vielleicht gar nicht so auffallen, wenn ich nicht im Lauf der Jahre in Schreibforen (vor allem in der Leselupe) unzählige Texte gelesen hätte, die damit beginnen, dass der Erzähler oder die Erzählerin etwas "anstarrt". Sei es das Spiegelbild, das leere Portemonnaie oder die Zimmertür. Und dann geht es irgendwie weiter, manchmal wird es noch eine nette Geschichte, aber warum am Anfang "gestarrt" wurde, wird dem Leser nicht erklärt. Es macht sich halt nur so gut im ersten Absatz, dass jemand da steht (oder sitzt) und starrt ...
Vor der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.
Nach der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.
(Ikkyu Sojun)
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Ich habe automatisch angenommen, der Titel sei ein Arbeitstitel, weil er klingt, als sei er Teil des Textes, habe ihn aber ihm Text selbst nicht gefunden (oder überlesen?). Bleibt der Titel? Ich finde die Vorstellung von der Innenfläche eines Steins interessant. Ungefähr wie eine Unterlegscheibe, bei der der Innenradius größer ist als der Außenradius ... grübel.
Vor der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.
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(Ikkyu Sojun)
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