Aphorismen aus Getreide

Bereich für Erzähl- und Sachprosa, also etwa Kurzgeschichten, Erzählungen, Romankapitel, Essays, Kritiken, Artikel, Glossen, Kolumnen, Satiren, Phantastisches oder Fabeln
Kurt
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Beitragvon Kurt » 30.07.2015, 23:28

Früh machte mein Vater mich vertraut mit der menschlichen Intelligenz. Zu diesem Zwecke wurden Hühner, Katzen und andere Tiere, die unser Gehöft bevölkerten, auf ihre Möglichkeiten und Grenzen ihrer Gehirnleistungen geprüft. Die Hühner mussten nach einem klassischen Versuchsaufbau einen Maschendrahtzaun umlaufen, um an das Futter zu gelangen, das hinter dem Zaun platziert war. Dabei mussten sie sich kurz vom Futter wegwenden, was sich für sie als eine fast unüberwindbare Hürde erwies. Den Katzen fiel diese Aufgabe deutlich leichter.

Auch mich stellte mein Vater auf die Probe mit speziellen Testaufgaben, die er aus dem gleichen Buch entnahm wie für die Tiere. So sollte ich in einem Zug neun Punkte mit einem Strich verbinden, sie dabei jeweils nur einmal kreuzen. Mir gelang es nicht. Mein Vater tröstete mich, dass auch Studenten die Aufgabe in der vorgegebenen Zeit nicht gelöst hätten, und das hier die artspezifische Grenze der kognitiven Intelligenz erreicht sei. Nachdem er mir aber die Auflösung zeigte, ärgerte ich mich, denn es war eigentlich ganz einfach. Ich brauchte die Punkte keineswegs direkt verbinden und protestierte, Vater hätte mir dies vorher mitteilen können, denn ich ginge ja davon aus. Er sagte, da hätten sich die Hühner ja auch beschweren müssen, weil er ihnen vorenthielt, dass sie sich vom Futter einmal wegbewegen müssten.

So übte ich mich früh in Bescheidenheit. Und es brauchte mir nicht peinlich zu sein als dummer Mensch dazustehen, denn es gab kein höheres Wesen, das hätte über mich lachen können. Heute wäre es mir nicht einmal peinlich, Aphorismen zu schreiben und sie ins Internet zu stellen, obwohl doch selbst den klügsten und lustigsten etwas Biederes anhaftet; man kann aber nicht behaupten, sie seien für die Katz, denn die könnte keinen Lesegenuss dabei finden. Meine Aphorismen sind so schlecht. Die verfüttere ich an die Hühner, lege aus Körnern Buchstabe für Buchstabe in den Sand. Ich glaube, den hier würden sie gerne vernaschen: Wer sich vom Futter wegbewegt, kommt hin zu ihm. Aber sie sind halt zu doof dazu. (Und: Bevor die Hühner es lernen, gehen ihnen die Spatzen durch die Maschen.)
Zuletzt geändert von Kurt am 06.08.2015, 05:28, insgesamt 1-mal geändert.
"Wir befinden uns stets mitten im Weltgeschehen, tun aber gerne
so, als hätten wir alles im Blick." (Kurt)

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birke
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Beitragvon birke » 31.07.2015, 14:26

finde ich klasse. steckt viel drin, vor allem feine ironie!
macht mir spaß, dieser text. :)
wer lyrik schreibt, ist verrückt (peter rühmkorf)

https://versspruenge.wordpress.com/

Mucki
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Beitragvon Mucki » 31.07.2015, 15:02

Hola Kurt,

die Idee, die Entstehung eines Aphorismus in eine Geschichte zu stecken, gefällt mir gut. Doch sollte dann auch ein "echter Aphorismus" dabei rauskommen, der auf eigenen Beinen stehen kann. Und daran hapert es m.E. hier.
"Wer sich vom Futter wegbewegt, kommt hin zu ihm." ist in meinen Augen kein Aphorismus, der für sich selbst stehen kann. Dieser Satz ist nur verständlich aufgrund der Geschichte davor.

Solo mis 2 pesetas. ,-)

Saludos
Mucki

Kurt
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Beitragvon Kurt » 02.08.2015, 13:53

Danke, Birke, erfreut mich.

Ja, Mucki, ich lass es erst mal so, scheint mir passend. Kann sich aber ja nach einem späteren Lesen ändern.

LG Kurt
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