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Bereich für Erzähl- und Sachprosa, also etwa Kurzgeschichten, Erzählungen, Romankapitel, Essays, Kritiken, Artikel, Glossen, Kolumnen, Satiren, Phantastisches oder Fabeln
Klimperer

Beitragvon Klimperer » 01.10.2014, 08:31

Gestern besuchte ich Alfred Probst im Hildegardis Krankenhaus. Ich fuhr dorthin mit der Linie 8. Eine junge, blonde Frau mit einem weißen, dünnen Stock stieg ein und fand schnell einen Sitzplatz. "Kann mir jemand sagen, wenn Hauptfriedhof kommt?" sagte sie mit lauter, sicherer Stimme. "Ja" sagte eine andere blonde Frau, die nicht weit von ihr entfernt saß. Drei Stationen weiter, als die Blinde aussteigen wollte, wurde sie von der Klapptür eingeklemmt und fing an zu schreien. Der Fahrer, ein gemütlicher Typ, stand auf und sagte "Sie hätte zu mir kommen sollen! Es ist ja nicht das erste Mal, dass sie fährt".
Alfred lag im Zimmer 110. Ich klopfte an und betrat das Zimmer, das er mit zwei älteren Patienten teilte. Sein Bett war am Fenster. Ein Besucher, dessen Gesicht mir bekannt vorkam, stand bei ihm. Er nutzte die Gelegenheit, um sich zu verabschieden.
Ich gab Alfred eine Schachtel von mit Calvados gefüllten Pralinen und eine arabische Tageszeitung, die ich kurz vorher am Bahnhof gekauft hatte. Alfred ist ein leidenschaftlicher Zeitungsleser. Er kann zwar kein Arabisch, aber in vielen Jahren wird er das Gefühl haben, diese Tageszeitung in einer anderen Welt gelesen zu haben. Er sehnte sich nach einer Coca-Cola. Eine Krankenschwester brachte Essen und machte kleine Scherze. Das Krankenhaus liegt gegenüber einem Friedhof.
Alfred trug spezielle Strümpfe, um die Gefahr einer Thrombose abzuwenden. Wenn er lachte, schützte er mit einer Hand seine Wunde am Bauch. Er zeigte mir die Steine, welche die Ärzte aus seiner Galle herausgeholt hatten.
Aus dem Fenster konnte man einen Baukran sehen. Seit seiner Operation konnte er zum ersten Mal was Richtiges essen. "Es ist wie eine Erleuchtung", sagte er. Auf seinem Betttisch lag ein Exemplar von "Playboy", das wahrscheinlich der andere Besucher mitgebracht hatte.

RäuberKneißl

Beitragvon RäuberKneißl » 01.10.2014, 22:24

ot: ob es einen Playboy auf Arabisch gibt? Allein die krummen geschwungenen unterstrichenen und überpünktelten Buchstaben machen ihn wohl überflüssig.
Ein schöner Text, Carlos, über Hildegardis Krankenhaus.
Grüße
Räuber

Klimperer

Beitragvon Klimperer » 04.10.2014, 09:53

Salut Räuber!

Vielen Dank dafür, dass du den Text gelesen hast und für dein Lob.

Ich wünsche dir ein schönes Wochenende
Carlos


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