Ein Besuch im Krankenhaus

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Klimperer

Beitragvon Klimperer » 06.08.2014, 09:09

Gestern besuchte ich Antonio wieder im Vincenz Krankenhaus. Ich nahm die Linie 63 am Hauptbahnhof, gegenüber von "Crazy Horse", dem großen Bordell, ein klassizistisches Gebäude. Früher gab es an seiner Fassade eine lateinische Inschrift, HIC HABITAT FELICITAS. Sie scheint ausgezogen zu sein. Im selben Gebäude, neben dem Puffeingang, ein Pornoladen in dem man sich, in Kabinen, Filme anschauen kann. Ein Herr in mittleren Jahren kommt daraus, bleibt an der Schwelle stehen, telefoniert mit seinem Handy. Er scheint keine Angst zu haben, gesehen zu werden.
In der Glaskabine der Bushaltestelle hat man eine Vermisstenanzeige angebracht, ein Mann wird vermisst. Ich dachte, nur Kinder und Mädchen verschwinden. Dieser hier ist, oder war 24 Jahre alt, und 1 Meter 80 groß. Zwei Fotos von ihm, er sieht sehr gut aus. Er wird seit Rosenmontag vermisst. Ich habe einige Vermisstenanzeigen in der letzten Zeit gesehen. Ob diese Menschen geraubt werden um ihre Organe zu klauen? Ich bekomme Angst, aber gleich tröstet mich der Gedanke, dass ich nicht mehr dafür in Frage komme. Es hat auch Vorteile, älter zu sein.
Die Fahrt zum Krankenhaus verlief ruhig, an der Uniklinik vorbei. Ich stieg aus und begab mich zum Eingang, wobei ich eine Rollator-schiebende-alte Dame überholte. Die automatische Glastür öffnete sich. Am Informationsschalter fragte ich nach meinem Freund. Siebter Stock, ganz oben also. Im Aufzug las ich, was da neben dem Knopf stand: AUGENABTEILUNG. Sie meinen wahrscheinlich, da befinden sich die Patienten, deren Augen bald für immer geschlossen sein werden.
Dort angelangt, fragte ich nach Antonio, "Ich suche einen alten spanischen Herrn" -sagte ich. Sie wussten gleich, wenn ich meinte. Ich trat hinein, zwei Betten, Antonio lag am großen Fenster, wie damals vor über 20 Jahren. Ich näherte mich, er schaute mich mit seinen kleinen, schlauen, katalanischen Augen an, fragend, misstrauisch. "Hola Antonio!" Wir hatten uns seit 10 Jahren nicht mehr gesehen. "Quién eres tú?" -fragte er mit schwacher Stimme. "Soy yo, Carlos. Carlos Larrea". Da leuchteten auf einmal, schwach, seine Augen, er hatte mich doch erkannt. "Carlos, tanto tiempo!". Da sagte er mir, er habe gedacht, ich sei ein Priester, weil ich ganz in Schwarz angezogen war. Das erklärte die Angst, die ich in seinem Blick gesehen hatte.
Es war viertel vor sechs als ich dort eintraf, ich hängte meine Jacke an einem Haken und rückte einen Stuhl neben Antonios Bett. Ich hatte mich gerade hingesetzt als Adela, seine Frau, hineinkam. Sie war wahrscheinlich auf der Toilette gewesen.
Antonio war sehr gerührt, mich zu sehen, er hatte absolut nicht mit mir gerechnet, mit niemandem, wahrscheinlich, denn alle seine Freunde sind schon gestorben oder können nicht zu ihm kommen.
Ich gab ihm eine kleine Musikorgel, die ich bei Karstadt gekauft hatte, eine kleine Drehorgel, die die Melodie "Hey Jude" spielt. Er versuchte, vergeblich, die Melodie abzuspielen, es war zu anstrengend für ihn. Er küsste die kleine Drehorgel und stellte sie auf seinem Betttisch.
Die Krankenschwester kam herein. Antonio hatte nichts gegessen. Er will nichts mehr essen. Die Schwester fragte ihn, ob er gerne einen Pudding essen würde. Nein. Sie verließ ziemlich missmutig den Raum mit dem unberührten Essen. Der Aussprache nach, war sie aus Polen.
Adela fing an, mit mir zu erzählen. Da sagte Antonio zu mir "Schau Dir den Sonnenuntergang an!" Tatsächlich, weit am Horizont konnte man eine große, rötliche, schnell sinkende Sonne sehen. "Mira el sol!" -hatte er gesagt. Auf Spanisch ist die Sonne männlich. Ich glaube, Antonio hat sein wenig Deutsch vergessen, er will kein Deutsch mehr reden. Adela schaute kurz hin und redete weiter. Da sagte Antonio, auf Spanisch "Schau wie schön die Sonne ist!". Es war wirklich schön diese untergehende Sonne zu sehen, das war der einzige Zeitvertreib von dem kleinen Prinz auf seinem mini Planeten gewesen. So wie er, drehte ich meinen Stuhl um und schaute zu. Nach wenigen Augenblicken war sie verschwunden.
„Hasta siempre!“, sagte Antonio, als ich mich verabschiedete.
Adela hat meine Handynummer. Sehr wahrscheinlich wird sie mich anrufen.

Mucki
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Beitragvon Mucki » 07.08.2014, 19:01

Hola Carlito,

dieser Text bist ganz du. Authentisch, berührend, aufmerksam in den kleinen Details. So, wie du es erlebt hast. Da gehe ich ganz mit und was hier bleibt, ist ein Gefühl der Traurigkeit.

Saluditos
Gabi

Klimperer

Beitragvon Klimperer » 08.08.2014, 16:15

Muchas gracias, Gabi, por tu "Rückmeldung".

Cada comentario positivo significa para mí un día más de vida...

A bientot

Carlos

Mucki
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Beitragvon Mucki » 08.08.2014, 16:29

Sag doch nicht so etwas, Carlos. Man ziehe den Umkehrschluss ... Nee, nix da.

Klimperer

Beitragvon Klimperer » 08.08.2014, 19:14

Ich bin putzmunter!

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birke
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Beitragvon birke » 08.08.2014, 23:37

traurig-berührend-schön.
und sehr echt, lebensnah geschrieben.
der text "nimmt mich mit", in positivem sinne.
auch wenn, wie gabriella schon schreibt, eine traurigkeit bleibt.
saludos
diana
wer lyrik schreibt, ist verrückt (peter rühmkorf)

https://versspruenge.wordpress.com/

Klimperer

Beitragvon Klimperer » 09.08.2014, 18:52

Merci Birke für deine Rückmeldung.

Ich bin glücklich darüber, dass dir die Geschichte gefällt.

Ein schönen Abend und einen sonnigen Sonntag wünsche ich dir

LG

Carlos


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