Ich hatte Dienst im Mittelalter als ich Antonio, den ehemaligen Boxer, mit kleinen Schritten aus der "Steinhalle" kommen sah. Seit zwanzig Jahren kenne ich ihn. Etwa eine Stunde wird er sich in meiner Abteilung aufhalten und wird mir zwei Geschichten erzählen, die ich gleich (miteinander verflochten) niederschreiben werde.
"Kann ich mich hinsetzen?" fragte er, einen misstrauischen Blick auf den "Safari Stuhl" werfend. Ich bot ihm einen anderen Stuhl an, zu Füßen des Mainzer Kurfürsten. Da nahm er Platz und begann von Schlangen zu erzählen. Es soll sogar in der Schweiz welche geben. Ein Freund von ihm, der Jahrelang in einem Guerilla in den kolumbianischen Wäldern war, hatte ihm erzählt, dass so gut wie keiner der Guerilla Kämpfer von einer Schlange gebissen wurde, obwohl sie in der Regel aus den Städten kamen. Die Bauern, die Landbewohner, die in der Gegend zu Hause waren: Die wurden von Schlangen gebissen. "Gestochen" sagt man bei ihnen.
Antonio fing an, mir eine Geschichte von einer spanischen Schlange zu erzählen, als eine kleine Vietnamesin die Abteilung betrat. Er merkte es nicht gleich, weil er etwas schwerhörig ist, aber ich hatte gehört, wie die West-Tür aufging.
"La bastarda", wie diese Schlange von den Bauern genannt wird, lebt zwischen Andalusien und Extremadura. Andere nennen sie "La bicha". Sie soll den Bauern ab und zu einen schönen Schreck einjagen, wegen ihrer Länge und weil sie, außer beißen, ihren Schwanz wie eine Peitsche schwingen kann. Zweiundzwanzig Junge soll eine Schlange zur Welt bringen, ein Adler zwei ... "Siehst Du die Relation?" sagte Antonio. "Um als Spezies zu überleben, muss der Adler den Kampf gegen die Schlange gewinnen. Er gewinnt aber nicht immer. Ich habe zu Hause einen Dokumentarfilm..." Hier unterbrach Antonio seine Erzählung, denn er hatte die kleine, junge Vietnamesin wahrgenommen. Geräuschlos, mit schleichenden Bewegungen ging sie an uns vorbei. "So ein kleines Ding" sagte Antonio, „ vor etwa 4 Jahren, als ich jeden Tag zum Arzt musste, hat mich so ein kleines Ding an einer Bushaltestelle angesprochen." Hier unterbrach ich ihn, weil die Tür von der Südseite ein für mich bekanntes Geräusch machte. Antonio schaute mich aus seinem niedrigen Stuhl an als ob ich über magische Kräfte verfügen würde. Es war niemand. Antonio fuhr mit dem Schlangenthema fort. "Die Schlangen sind taub" sagte er, und begann mir den Kampf zwischen einem Adler und einer "Bastarda" zu beschreiben.
Der Adler seiner Geschichte ist in Afrika beheimatet. Einmal im Jahr kommt er nach Spanien, zu dem riesigen Naturpark zwischen Andalusien und Extremadura. "Der Adler hat extrem scharfe Augen. Die Schlange ist schnell, aber der Adler ist noch schneller. Aber er muss aufpassen, denn der kleinste Fehler ..." Die Vietnamesin kam wieder an uns vorbei, drehte langsam eine Runde um die "Schatzkammer". Ihre Augen funkelten wie kalte Azabache. "Nun, jene kleine Vietnamesin" kam auf mich zu als ich auf den Autobus wartete und sprach mich an. Sie fragte mich, ob ich eine Familie kenne bei der sie schlafen könnte. Sie würde in einem Container leben und dort wäre es, auch nachts, unheimlich warm." "Antonio, ich komme gleich zurück, ich muss kurz verschwinden", sagte ich und ging auf die Toilette im Keller. Als ich zurückkam, erzählte er weiter über den Kampf zwischen dem afrikanischen Adler und der "Bastarda, den er zu Hause in einem Video gesehen hatte. Als er den Sturzflug des Adlers beschreiben wollte, stieß er mit der linken Hand gegen das Weihwasserbecken aus dem 11. Jahrhundert, das links von ihm stand. Die Vietnamesin schaute in unsere Richtung. "Ja, genau so ein kleines Ding war sie, das Gesicht vielleicht etwas rundlicher... Ja, wie gesagt, als ich am nächsten Tag zur gleichen Zeit auf meinen Bus wartete war sie wieder da und wollte wissen ob ich, hinsichtlich ihrer Wohnbedürfnisse etwas erfahren hätte..." In diesem Augenblick öffnete sich die Süd- Tür und Frau S. kam herein, ging wie ein Pfeil, ohne zu grüßen, an uns vorbei in die nächste Abteilung. "Ein Spion?" wollte Antonio wissen.
"Der afrikanische Adler stürzte sich also auf die "Bastarda" und packte sie, von hinten, am Kopf, hat dabei aber einen winzigen Fehler gemacht, sodass zwischen den Krallen und dem Kopf der Schlange ein paar Zentimeter freier Raum entstand und diese den Kopf frei bewegen konnte." Ich ahnte schon das Ende der Geschichte ... Ich ging in den kleinen Raum, wo die Schalter sind und rief Antonio. Mit Mühe stand er von seinem Stuhl auf und kam zu mir. Trotz der Langsamkeit erkennt man an der Entschlossenheit seines Schrittes den ehemaligen Faustkämpfer. Ich machte eine kleine Tür in der Wand auf und zeigte Antonio, zwischen großen, roten Stromschaltern eine V-8 Dose, den Gemüsesaft aus England, den ich seit meiner Kindheit in Ekuador kenne. Abgesehen von Wasser ist für uns das Trinken in den Abteilungen verboten. "Das ist also dein Versteck!" sagte Antonio und lachte.
Wie enden die zwei Geschichten von Antonio? Der Adler verliert diesmal den Kampf, nicht weil die Schlange ihn gebissen, wie ich vermutet hatte, sondern weil sie den freien Teil ihres Körpers zum Adler hin dreht und ihn langsam umschlingt. Man konnte zusehen wie der Adler langsam nach hinten rückte und seine Krallen nach oben zeigten. An dieser Stelle hat man die Verfilmung abgebrochen.
Die Vietnamesin, "Das kleine Ding", wie sie Antonio nannte, war noch im Raum. Da erzählte mir Antonio den Schluss seiner parallelen Geschichte: Am vierten Tag, aus heiterem Himmel hatte die Vietnamesin an der Bushaltestelle zu ihm gesagt: "Nun also, genug von diesem Spiel: Das kostet dich 300 DM!"
Antonio
Ich muß sagen, daß ich diesen leicht chaotischen Verkehr unterschiedlicher geistiger Universen miteinander, durch den dennoch eine Art Einverständnis zustande kommt, sehr genieße. Er ist für mich ein getreues Abbild dessen, was zwischen Menschen eigentlich stattfindet, wenn sie sich in ihren voneinander getrennten Lebensabläufen tangieren.
Jeder enthält seine Geschichte in tausenden Geschichten, von denen wir nie mehr als Bruchteile hören werden - eine grundlegende conditio humana, mit der wir einfach nur umzugehen haben. Eine humorvolle Geschichte daraus zu machen, ist eine der besseren Möglichkeiten davon.
Liebe Grüße
Eva
Jeder enthält seine Geschichte in tausenden Geschichten, von denen wir nie mehr als Bruchteile hören werden - eine grundlegende conditio humana, mit der wir einfach nur umzugehen haben. Eine humorvolle Geschichte daraus zu machen, ist eine der besseren Möglichkeiten davon.
Liebe Grüße
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