[align=right]Jeden Ärger zu verdrängen
kann nur zu Komplexen führn
und drum ist es äußerst wichtig
sich schnell abzureagiern.
Es ist meistens nur die Frage,
wie man dieses tuen kann:
Na so gehts halt in den Pråter,
watschents dort den Watschenmann!
F. Raimund aus Der Verschwender[/align]
Der Volksprater in der Leopoldstadt, dem 2. Gemeindebezirk, wird von den Wienern liebevoll „Wurschtelprater“ genannt.
Er war der Traum jedes Kindes, als es noch kein Internet gab, keine Play-Station, noch nicht einmal Handys. Man besaß höchstens einen Fernseher, wenn überhaupt. Telefone hatten runde Wählscheiben, über Anrufbeantworter verfügten Privathaushalte nicht, nun, es war ganz anders. Viel stiller.
Zu großen Feiertagen und an manchem Sonntag, gingen die Eltern mit den Kindern, aber nur, wenn sie über Monate brav gewesen waren, in den Wurschtelprater.
Schon am Eingang, wo das Riesenrad seine langsamen Runden auch heute noch dreht, vibrierten mein Bruder und ich vor Aufregung. Unser Papa, immer elegant im beigen Regenmantel von Burberry startete zum Stand mit den Salzgurken. Papierteller gab es noch nicht, der Gurkenmann in Lederschürze fasste mit einer Holzzange in die trübe Flüssigkeit eines Holzfasses und platschte das labbrige Ding auf ein Stück Packpapier. Papa liebte diese großen, in Salzlauge eingelegten Gurken und aß eine zum Auftakt. Einmal kostete ich davon, einfach scheußlich, ich fand, sie schmeckte und roch nach Pisse. Unsere Mama und wir Kinder hatten gekochten Kukuruz – Maiskolben – mit Butter bestrichen lieber, bekamen das auch am Stand neben den grausigen Gurken.
Nach dem Imbiss ging es endlich los, die erste Station war das Autodrom. Erst ab vierzehn durften Kinder ohne Begleitung damit fahren, Mama stieg mit meinem Bruder in ein Auto, ich mit Papa. Wir zogen unsere Runden, die Stangen an den Wägen, die sich von der Decke Elektrizität holten, schlugen dort oben blaue Funken. Der Sinn des Autodromfahrens war, die anderen Autos zu touchieren, aus der Bahn zu stoßen. Papa und ich gaben demnach Gas. Mein Bruder heulte. Er war kleiner als ich, zwei Jahre jünger und ein Angsthase. Mama fuhr schließlich an den Rand und stieg mit ihm aus.
Ins Sturmboot stieg er nach einem einzigen Versuch niemals wieder ein, denn da gab es kein Entrinnen, sobald es in Bewegung war. Je weiter außen man die Sitzreihe wählte, desto schlimmer und auch toller war das Erlebnis; das kitzelte im Bauch, der Magen hob sich und manchmal dachte ich, der Kukuruz würde retourkommen. Schwankend stiegen Papa und ich aus.
Mein Bruder spottete: „Grün, grün, grün, grün ist deine Nase...“
Ich verpasste ihm einen Tritt in die Kniekehle.
Auf dem Ringelspiel ließ ich ihn dann allein fahren, ich brauchte eine Pause. Aber beim Toboggan, da war ich wieder dabei. Ich war zwölf und die Hormone zirpten schon leise aber nachdrücklich. Der Toboggan besteht aus einem hohen Turm, zu dem man stehend auf einem Förderband hinauffährt. Oben klettert man noch ein paar Stufen höher, setzt sich auf einen Jutesack und saust eine Rutsche, bestehend aus schmalen Holzleisten hinunter. Das fetzt! Nachdem das Förderband sehr schnell läuft und der Gast dabei das Gleichgewicht verlieren kann, wurden die Kinder von Helfern begleitet. Es waren attraktive Burschen in Westernstiefeln, engen Jeans und ärmellosen Shirts, die Haut gebräunt, die nackten Arme muskulös und oft tätowiert. Die Hormone flirrten ungemein in mir, wenn ich die kräftigen Hände spürte, die sich von hinten um meine Taille legten.
Offenbar hatte ich – leider – schon in diesem zarten Alter einen Hang zu Kerlen, die nicht der gesellschaftlichen Norm entsprachen. So mit fünfzehn, sechzehn brannten die Hormone dann lichterloh, wenn ich mich mit meinen Freundinnen kichernd dem Toboggan näherte, aber leider war ich schon zu groß, um noch auf dem Förderband von den Helfern begleitet zu werden, schade.
Danach kehrten wir im Gasthaus ‚Zum Walfisch’ ein. Auf dem Vordach über dem Eingang lag ein wirklich riesiger Walfisch, mit Grünspan überzogen, imposant, wie die Wiener Schnitzel, die wir dort im Gastgarten verzehrten. Meine Mama konnte das nie aufessen und ließ sich zwei Drittel davon einpacken; wir bekamen das dann am nächsten Tag aufs Schulbrot mit, lecker einerseits, andererseits eine erfreuliche Verlängerung der Erinnerung an den herrlichen Praterausflug.
Nach einem Eisbecher zum Abschluss ging es weiter, Hochschaubahn, Grottenbahn, Geisterbahn, alles musste genossen werden. Gut, von mir alles, von meinem Bruder nicht, denn gegen die Geisterbahn sträubte er sich mit aller Macht. Allein der Gorilla, der oberhalb der Bahn auf einer Balustrade zwischen Pappendeckelfelsen auf und ab ging und Drohgebärden auf die Leute unten losließ, reichte ihm schon, um ein striktes „Nein!“ zu sagen. Ich erzählte ihm dann gern Details nach der Fahrt mit Papa durch schnappende Gespenster, heulende Hexenwesen, Klapperskelette, auch, dass da drinnen der Tod auf meinen Bruder warte, wie ich ihm ausrichten solle.
Um diesen Schock zu verdauen, benötigte er eine gute Woche.
Nun kam es zu einem Highlight für uns Kinder, denn wir flehten Papa an, zwangen ihn geradezu, sich mit dem Watschenmann zu messen. Der Watschenmann ist eine mannsgroße Puppe mit einem dunklen Gesicht, wulstig, stark, eigentlich unbesiegbar. Wer es wagt, sich mit ihm auseinanderzusetzen, muss ihm eine Watschen – Ohrfeige – verpassen, worauf die Figur mit einem Brummlaut antwortet. Wie stark der Kontrahent gewatscht hat, sieht man auf einem Zeigerinstrument. Mein Papa, von zierlicher Statur, schaffte immer nur maximal zehn Prozent. Wir jubelten ihm trotzdem zu, vor allem deswegen, weil er sich uns zuliebe zu dieser Übung breitschlagen ließ.
Müde und verklebt von Zuckerwatte legten wir die letzte Strecke zum Ausgang am anderen Ende vom Wurschtelprater zurück, bestiegen noch ein Ringelspiel; mein Bruder liebte es, in der Lokomotive anzugeben, und hupte, was der Knopf hergab. Ich setzte mich lieber auf eines der geschnitzten Pferde und stellte mir vor, ich wäre eine wunderschöne Prinzessin. Und das mit Brille gegen Weitsichtigkeit, kugelrund, im Pepitaröckchen. Illusion und Wirklichkeit, wie man so sagt.
Auf dem letzten Rondeau, ehe man zur Straße kam, stand, und steht immer noch, der Calafati. Für uns war er in erster Linie das Zeichen, dass der Praterbesuch bald vorbei wäre, aber heute finde ich die Hintergrundgeschichte zum Calafati sehr hübsch.
Er ist neun Meter hoch und Chinese, die Wiener sagen auch ‚Großer Chineser’ zu ihm und neben dem Riesenrad ist er das Wahrzeichen des Wurschtelpraters.
Zurückzuführen ist er auf Basilio Calafati, Sohn von griechischen Einwanderern, der am 1.1.1800 in Triest geboren wurde, der demnach kein Chinese war.
Er kam nach Wien und verdiente sein Geld in Gasthäusern des Praters, indem er als „Salamucci“ aus einem Bauchladen Salami und Emmentaler an den Tischen verkaufte. Später assistierte er dem Zauberkünstler Sebastian von Schwanenfeld, kaufte ihm 1834 die Spielstätte ab und stellte um auf Geistererscheinungen. Bald darauf eröffnete er das Eisenbahncaroussel und ließ nach dem Abtragen des unrentablen Obergeschoßes den freistehenden Mast mit einer Riesenfigur verkleiden, die die Züge eines Chinesen trägt. Der ‚Große Chineser’ war geboren!
Links davon gab es einen kleinen Zoo, der heutzutage dem Tierschutzgesetz zum berechtigten Opfer fallen würde.
Darüber wusste man in den 1960ern noch nichts.
In kleinen Käfigen fristeten Totenkopfäffchen, Papageien und noch irgendwelche armen Geschöpfe ihr Leben, im Nachhinein schaudert’s mich, aber damals fand keiner etwas Schlimmes daran. Dort gab es aber auch drei Lamas, die durch ihr Käfiggitter zum danebenliegenden Reitzelt schauten.
Eine kleine Sandarena, in der Kinder auf Ponys, geführt von Männern in Cowboykluft, dreimal im Kreis reiten durften. Nachdem das unser „wirklich allerletztes Vergnügen“, wie Mama und Papa im Duett warnten, für heute war, ritten wir. Dies war bei jedem Praterbesuch das rituelle Ende für viele Wochen. Ich wartete nach dem Abstieg vom Pony nur noch auf das „wirklich allerletzte Vergnügen“ des Tages, aber nicht lang. Denn kaum standen wir vorm Gitter der Lamas, schnaubte das größte der Tiere und spuckte – wie jedes Mal! – eine Ladung Speichel auf den Burberry meines Papas. Und wie jedes Mal spuckte er knallhart zurück.
„Dem hab ich’s aber gezeigt“, sagte er und Mama holte ihr Taschentuch heraus, wischte am Mantel herum, während wir uns ausschütteten vor Lachen.
Außen herum war es damals viel stiller; in uns wohnte das reine Glück.
edit: ich weiß, ich bin kaum da, kommentiere derzeit nix, entschuldigung.
Der Calafati und der Watschenmann
Mit großer Vergnügung habe ich diese fließend erzählte Geschichte aus der Kindheit erinnert.
Ich selbst war immer ein Angsthase, konnte mich gut mit dem kleineren Bruder identifizieren.
Beim Nachlesen dieses Kommentars sehe ich, dass ich "erinnert" anstatt "gelesen" geschrieben habe: Ein Zufallstreffer!
Ich selbst war immer ein Angsthase, konnte mich gut mit dem kleineren Bruder identifizieren.
Beim Nachlesen dieses Kommentars sehe ich, dass ich "erinnert" anstatt "gelesen" geschrieben habe: Ein Zufallstreffer!
Huhu Elsie,
das hab ich sehr gern und in einem Rutsch gelesen, weil du es so schön flutschig erzählst. Klar, da werden Erinnerungen wach. Ich hab vor allem total gern auf dem Kettenkarussel meine Runden gedreht, konnte nie genug davon bekommen. Bin da immer mit Schwung nach außen raus, um das Gefühl des Fliegens noch zu verstärken. Und in der Geisterbahn hat's mich arg gegruselt, aber eingestiegen bin ich schon. Nur die Achterbahn, die ging nie: da wurd's mir schon vom Zusehen schlecht. ,-)
Liebe Grüße
Mucki
das hab ich sehr gern und in einem Rutsch gelesen, weil du es so schön flutschig erzählst. Klar, da werden Erinnerungen wach. Ich hab vor allem total gern auf dem Kettenkarussel meine Runden gedreht, konnte nie genug davon bekommen. Bin da immer mit Schwung nach außen raus, um das Gefühl des Fliegens noch zu verstärken. Und in der Geisterbahn hat's mich arg gegruselt, aber eingestiegen bin ich schon. Nur die Achterbahn, die ging nie: da wurd's mir schon vom Zusehen schlecht. ,-)
Liebe Grüße
Mucki
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