Claudio verschwand in Argentinien. Ich sehe ihn noch vor mir.
Täglich polierte er seine Schuhe: Mit Milch, wenn keine Schuhkreme vorhanden war.
Blond war er.
Er sagte, man solle den Reis anbraten, bevor man ihn mit heißem Wasser übergießt. Er verbrannte ihn fast, als er es uns demonstrieren wollte.
Claudios Mutter, eine gebürtige Österreicherin, lebte in Argentinien.
Vielleicht liest sie immer noch in den Zeitungen Berichte über öffentlich protestierende Mütter, deren Kinder, so wie Claudio, verschwunden sind. Sie selbst ist wahrscheinlich nie zu solchen Demonstrationen gegangen.
Als Claudios Freunde und Bekannte von seinem Verschwinden erfuhren, organisierten sie einen Hungerstreik in Bonn. Um die Leute zu überzeugen, dass er existierte, oder existiert hatte, kam man auf die Idee, seine Mutter nach Deutschland kommen zu lassen.
Sie unterrichtete in der deutschen Schule in Buenos Aires. Dort war auch Claudio (er hieß eigentlich Klaus) geboren. Nach dem Abitur wurde er nach München geschickt, um dort Maschinenbau zu studieren.
Für den Sommerurlaub war er nach Hause geflogen. Dort wurde er von der Geheimpolizei der Militärdiktatur entführt. Wie viele junge Menschen, hatte Claudio die Welt verändern wollen.
Claudios Mutter ließ sich überreden und kam nach Deutschland. Sie wurde am Flughafen von einem einäugigen Bischoff empfangen.
Da war sie also, diese ältere, vornehm aussehende Dame, die sich nie für Politik interessiert hatte, mitten unter Linksradikalen. Sie weigerte sich allerdings, sich auf den Boden des Münsterplatzes zu setzen, sie nahm Platz auf der Bank, über der ein Transparent hing:
WO IST KLAUS ZIESCHANK?
Sie übernachtete auch nicht auf dem Platz, sondern im Haus des Bischofs.
Die Bank, auf der sie tagsüber saß, wurde in der Nacht von einem Penner besetzt. Mitten in der Nacht konnte man hören, wie er pinkelte, ohne von der Bank aufzustehen ...
Tagsüber war der Penner ein eifriger Unterstützer der Forderung der Hungerstreikenden. Immer wieder setzte er seinen Namen auf die Liste, die man auf einem Tisch aufgestellt hatte.
Anstatt einer Unterschrift hatte jemand HIJOS DE PUTA auf die Liste geschrieben.
Es gab Leute, die demonstrativ langsam, an einer Wurst kauend, vorbeigingen.
Damit das Transparent nicht verdreht wurde, hatte Orlando, ein Kolumbianer, seine Schuhe daran gehangen. Die Schuhe hatte ihm seine Freundin aus Mailand mitgebracht.
Wir lagen zu Füßen des Beethovens Denkmals, neben einem italienischen Café. Der Besitzer hasste uns. Das sah man an der Art, wie er abends seine Stühle ankettete. Auch die Leute von der Müllabfuhr, die den Platz früh am Morgen kehrten, sahen uns verächtlich an.
Eine Bolivianerin hatte ein Loch in ihren Schlafsack gemacht, um einen Fuß rausstrecken zu können.
Neulich, fast 40 Jahre später, musste ich in Bonn umsteigen. Ich beschloss, einen späteren Zug zu nehmen und dem Schauplatz jener Tragikomödie einen Besuch zu erstatten.
Ich wollte mich nach dem Weg zum Münsterplatz erkundigen, aber ich war dort bevor ich einen Passanten fragen konnte. Die alte Kirche, die Basilika, habe ich gleich erkannt. Die Bank, wo der Penner schlief, die zwei Bäume, an denen das Transparent festgebunden war. Der Boden des Platzes hatte man durch kleine, flache Steine ersetzt.
Ich ging um das Beethoven Denkmal herum, auf der Suche nach etwas, das nicht mehr existierte.
Das italienische Café war noch da.
Damals war es Sommer gewesen, jetzt fiel ein kalter Dauerregen. Die Hand mit dem Regenschirm fing an zu frieren.
Ich hatte noch Zeit, wollte etwas sinnvolles tun, ging zum alten Friedhof, wo Beethovens Mutter begraben liegt.
Die Tür war offen, außer zwei Gärtnern war niemand drin. Ich las im Vorbeigehen einige Namen. Bei manchen stand vor dem Namen ein Titel: Doktor, Professor, Studienrat ...
Der Friedhof ist nicht groß. In seiner Mitte, unübersehbar, das Grabmal von Schumann. Eine in weißem Marmor dargestellte Flamme. Ein stilles, ewiges, nur für sich selbst brennendes Feuer.
Claudio
Hallo Klimperer,
ich habe mal versucht, bei Wiki etwas über die Hintergründe zu erfahren:
Klaus Zieschank
Vielleicht kannst Du mir sagen, ob die dort geschilderten Fakten korrekt sind.
Deine Geschichte macht die Gleichgültigkeit, die damals bei uns gegenüber diesen Vorgängen geherrscht hat, sehr fühlbar.
Ein paar kleine Fehler sind noch drin (zb "Beethoven Denkmal", richtig wäre Beethovendenkmal oder Beethoven-Denkmal), ich gehe heute abend noch einmal genauer darüber. Auch das Wort "abgeschleppt" gefällt mir nicht so recht. Abschleppen macht man mit kaputten Autos; auf Menschen bezogen kenne ich es nur als scherzhaften Ausdruck für Anmache zwischen den Geschlechtern. Besser wäre "verschleppt".
Später mehr.
Grüße von Zefira
ich habe mal versucht, bei Wiki etwas über die Hintergründe zu erfahren:
Klaus Zieschank
Vielleicht kannst Du mir sagen, ob die dort geschilderten Fakten korrekt sind.
Deine Geschichte macht die Gleichgültigkeit, die damals bei uns gegenüber diesen Vorgängen geherrscht hat, sehr fühlbar.
Ein paar kleine Fehler sind noch drin (zb "Beethoven Denkmal", richtig wäre Beethovendenkmal oder Beethoven-Denkmal), ich gehe heute abend noch einmal genauer darüber. Auch das Wort "abgeschleppt" gefällt mir nicht so recht. Abschleppen macht man mit kaputten Autos; auf Menschen bezogen kenne ich es nur als scherzhaften Ausdruck für Anmache zwischen den Geschlechtern. Besser wäre "verschleppt".
Später mehr.
Grüße von Zefira
Vor der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.
Nach der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.
(Ikkyu Sojun)
Nach der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.
(Ikkyu Sojun)
Ja, Zefira, eben habe ich diesen Bericht gelesen, gleich habe ich Claudio erkannt ...
Er war ein unheimlich lebhafter, freundlicher, lustiger Mensch, und sehr, sehr optimistisch. Bis jetzt fällt es mir schwer zu glauben, dass er tot ist. Es gab sogar einen zweiten Hungerstreik, auch seine deutsche Freundin war dabei. Aber ich hatte immer das Gefühl, das Alles war nur wegen ihm, ich meine, wenn er nicht so gewesen wäre, wie er war, hätten wir uns nicht so viel Mühe gemacht.
Vielen Dank für dein Interesse. Ich hätte nicht gedacht, dass das sozusagen schon zur Geschichte gehört. Für mich war es nur eine erlebte Episode.
Vielen Dank, Zefira.
K.
Er war ein unheimlich lebhafter, freundlicher, lustiger Mensch, und sehr, sehr optimistisch. Bis jetzt fällt es mir schwer zu glauben, dass er tot ist. Es gab sogar einen zweiten Hungerstreik, auch seine deutsche Freundin war dabei. Aber ich hatte immer das Gefühl, das Alles war nur wegen ihm, ich meine, wenn er nicht so gewesen wäre, wie er war, hätten wir uns nicht so viel Mühe gemacht.
Vielen Dank für dein Interesse. Ich hätte nicht gedacht, dass das sozusagen schon zur Geschichte gehört. Für mich war es nur eine erlebte Episode.
Vielen Dank, Zefira.
K.
Hallo Klimperer,
ich habe eben den Text noch einmal durchgelesen.
Heute morgen habe ich mir vorgestellt, Dir alle möglichen "Lektorats"-Vorschläge zu machen. Aber das erübrigt sich. Der Text hat genau das, was (finde ich) die Stärke vieler Deiner Texte ausmacht. Du stellst einen persönlichen Konflikt vor und deutest dabei eine sehr viel umfassendere Katastrophe im Hintergrund an.
Es gibt nur eine Stelle, über die ich jetzt gestolpert bin:
Bis dahin hast Du Einzelheiten erzählt: der Penner, der täglich unterschreibt, die Schuhe an dem Transparent, das Loch im Schlafsack. Wenn man die Hintergründe kennt (dafür genügt wohl die Info bei Wiki), schwingt in diesen Einzelheiten etwas mit wie ein Schwarzes Loch, eine Ungeheuerlichkeit, die auf ein Loch im Schlafsack heruntergebrochen wird. Das finde ich sehr effektvoll.
Eben deshalb würde ich den zitierten Satz, der die Perspektive quasi wieder höher hängt, weglassen und den Absatz einfach mit dem Loch im Schlafsack beenden. (Die Pünktchenreihe ist sowieso überflüssig - es genügen zwei Leerzeilen.)
Was mich jetzt auch noch beschäftigt, ist dieser Satz:
Es gibt zwei mögliche Deutungen. Entweder diese: man begeht einen Platz, den man in seiner Jugend kannte, und erkennt alles wieder. Dann fängt man an zu suchen: hat sich denn gar nichts verändert? Ist wirklich alles noch so wie damals? Das wäre eine Suche nach etwas, was nicht mehr existiert.
Oder: der Platz hat ein spezielles Flair, den Duft der Erinnerung, den man in der Phantasie trägt. Kehrt man zum Schauplatz zurück, stellt man fest, dass nichts mehr davon da ist - und meistens weiß man das ja vorher. (Die Plätze, an denen ich vor zig Jahren einmal besonders glücklich war, meide ich deshalb.)
Was ich sagen will: Ist diese Zweideutigkeit beabsichtigt? Welche der beiden Deutungen steht im Vordergrund?
(Ich hoffe, ich habe mich nicht zu verdreht ausgedrückt ...)
Nachtgrüße!
Zefira
ich habe eben den Text noch einmal durchgelesen.
Heute morgen habe ich mir vorgestellt, Dir alle möglichen "Lektorats"-Vorschläge zu machen. Aber das erübrigt sich. Der Text hat genau das, was (finde ich) die Stärke vieler Deiner Texte ausmacht. Du stellst einen persönlichen Konflikt vor und deutest dabei eine sehr viel umfassendere Katastrophe im Hintergrund an.
Es gibt nur eine Stelle, über die ich jetzt gestolpert bin:
..................................................................................
Man beschloss, den Hungerstreik feierlich mit einem Fackelzug zu beenden, an dem auch Claudios Mutter und der Bischof teilnahmen.
Bis dahin hast Du Einzelheiten erzählt: der Penner, der täglich unterschreibt, die Schuhe an dem Transparent, das Loch im Schlafsack. Wenn man die Hintergründe kennt (dafür genügt wohl die Info bei Wiki), schwingt in diesen Einzelheiten etwas mit wie ein Schwarzes Loch, eine Ungeheuerlichkeit, die auf ein Loch im Schlafsack heruntergebrochen wird. Das finde ich sehr effektvoll.
Eben deshalb würde ich den zitierten Satz, der die Perspektive quasi wieder höher hängt, weglassen und den Absatz einfach mit dem Loch im Schlafsack beenden. (Die Pünktchenreihe ist sowieso überflüssig - es genügen zwei Leerzeilen.)
Was mich jetzt auch noch beschäftigt, ist dieser Satz:
Ich ging um das Beethoven Denkmal herum, auf der Suche nach etwas, das nicht mehr existierte.
Es gibt zwei mögliche Deutungen. Entweder diese: man begeht einen Platz, den man in seiner Jugend kannte, und erkennt alles wieder. Dann fängt man an zu suchen: hat sich denn gar nichts verändert? Ist wirklich alles noch so wie damals? Das wäre eine Suche nach etwas, was nicht mehr existiert.
Oder: der Platz hat ein spezielles Flair, den Duft der Erinnerung, den man in der Phantasie trägt. Kehrt man zum Schauplatz zurück, stellt man fest, dass nichts mehr davon da ist - und meistens weiß man das ja vorher. (Die Plätze, an denen ich vor zig Jahren einmal besonders glücklich war, meide ich deshalb.)
Was ich sagen will: Ist diese Zweideutigkeit beabsichtigt? Welche der beiden Deutungen steht im Vordergrund?
(Ich hoffe, ich habe mich nicht zu verdreht ausgedrückt ...)
Nachtgrüße!
Zefira
Vor der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.
Nach der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.
(Ikkyu Sojun)
Nach der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.
(Ikkyu Sojun)
Guten Morgen, Zefira,
sehr aufmerksam, wie immer, habe ich deinen Kommentar gelesen, auch wegen der Klarheit, wegen der Schönheit deiner Sprache. Das tut meiner Seele gut. Ein Deutscher kann wahrscheinlich nicht ganz nachvollziehen, was für einen Genuss die deutsche Sprache bereiten kann. "Wortschatz" ist für mich nicht nur ein Wort.
Deswegen verstehe ich nicht den Drang, die deutschen Vokabeln immer mehr durch Anglizismen zu ersetzen.
Nun, ich bin auch deiner Meinung, was die Suche nach ehemaligen Schauplätzen angeht. Als ich um das Denkmal laufe, suche ich mich selbst: Nicht nur Claudio ist verschwunden ...
Als ich sein Bild gestern sah, hatte ich ihn sofort vor Augen. Seltsamerweise musste ich an Novalis denken. Er kam mir auf dem Foto so jung vor, fast wie ein Kind. Er war wirklich ein außergewöhnlicher Mensch.
Wie du sehen kannst, bin ich deinen Empfehlungen gefolgt. Ich danke dir.
K.
sehr aufmerksam, wie immer, habe ich deinen Kommentar gelesen, auch wegen der Klarheit, wegen der Schönheit deiner Sprache. Das tut meiner Seele gut. Ein Deutscher kann wahrscheinlich nicht ganz nachvollziehen, was für einen Genuss die deutsche Sprache bereiten kann. "Wortschatz" ist für mich nicht nur ein Wort.
Deswegen verstehe ich nicht den Drang, die deutschen Vokabeln immer mehr durch Anglizismen zu ersetzen.
Nun, ich bin auch deiner Meinung, was die Suche nach ehemaligen Schauplätzen angeht. Als ich um das Denkmal laufe, suche ich mich selbst: Nicht nur Claudio ist verschwunden ...
Als ich sein Bild gestern sah, hatte ich ihn sofort vor Augen. Seltsamerweise musste ich an Novalis denken. Er kam mir auf dem Foto so jung vor, fast wie ein Kind. Er war wirklich ein außergewöhnlicher Mensch.
Wie du sehen kannst, bin ich deinen Empfehlungen gefolgt. Ich danke dir.
K.
Ich hatte bei der ersten Lektüre etwas Schwierigkeiten, das Thema als Tragikomödie zu verstehen - das tut den Müttern vom Plaza de Mayo unrecht, die sich dort heute noch versammeln und suchen und hoffen und zeigen, daß es sie und ihre verschollenen Angehörigen gibt; und jenen Erwachsenen, die erst heute erfahren, daß ihre Eltern ermordet und sie an "passende", regimetreue Familien verteilt wurden. Dennoch muß ich natürlich als jemand, die sich damals aus der Ferne und nebenbei in der von dir beschriebenen Form engagierte, zugeben, daß es sich ziemlich genau darum handelte und von uns auch hilflos so empfunden wurde; wobei man allerdings nicht vergessen sollte, daß unsereins gegen die Macht faschistischer Generäle immer etwas lächerlich wirken wird. Was die Opfer betrifft, so ist, glaube ich, die ganze unfaßbare Katastrophe ihres Schicksals in deiner Geschichte als Untertext impliziert. Vielleicht kann man anders nicht über sie sprechen, ich weiß es nicht.
Ein wichtiger Text deiner besonderen Art, Carlos.
Liebe Grüße
Eva
Noch ein kleiner Hinweis: In der zweiten Zeile des letzten Absatzes sollte es besser "dem Schauplatz jener Tragikomödie einen Besuch abzustatten" heißen.
Ein wichtiger Text deiner besonderen Art, Carlos.

Liebe Grüße
Eva
Noch ein kleiner Hinweis: In der zweiten Zeile des letzten Absatzes sollte es besser "dem Schauplatz jener Tragikomödie einen Besuch abzustatten" heißen.
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