Sackkarre

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Klimperer

Beitragvon Klimperer » 21.03.2013, 00:34

Ich schiebe eine Sackkarre durch die Große Bleiche. Niemand, der mich so sieht, wird vermuten, dass meine Frau gerade Urlaub in Vietnam macht. Und noch weniger werden denken, dass ich, vor die Wahl gestellt, in Vietnam, China, Indien und so weiter Urlaub zu machen oder diese Sackkarre durch die Straßen zu schieben, ich mich für diese Sackkarre entscheiden würde. Ich mache gerne Urlaub mit meiner Frau, aber nicht in jenen Ländern. Mich zieht das Exotische nicht an. Auch Disneyland lehne ich ab, egal wo es sich befindet.
Ich bringe die Sackkarre in den hinteren Hof der Post, in der Gärtnergasse. Die gelben Postkästen mit den Infobriefen schleppe ich die Stufen hoch und stelle sie vor dem Schalter ab, wenn ich Glück habe, komme ich gleich dran. Heute ist die dicke junge Frau wieder da. Sie ist dicker geworden, sie scheint den Kampf gegen das Dicksein aufgegeben zu haben. Sie erkennt mich und lächelt mir zu. Ich bewundere den Optimismus dieser Frau. Ich frage sie, wie es ihr mit dem Fersensporn unter der Fußsohle geht ... ob sie operiert wurde. Nein, sagt sie, der Arzt versuche es zuerst mit elektrischen Stößen, es scheint zu wirken.

Viermal kam ich heute mit der Sackkarre zu ihr, das letzte Mal, zu meiner Überraschung, war niemand vor mir, auch keiner von diesen jungen Menschen mit roten, eng anliegenden Uniformen, die alles Mögliche mit dem Fahrrad befördern. Die dicke junge Frau saß alleine in einer Ecke, stand auf, als ich erschien. Wir halten immer einen kleinen Small-Talk. Ich fragte sie, welche Filme sie gerne guckt. »Lustige Filme«, sagte sie, »auch Action-Filme.« »Science-Fiction?« »Ja« – und sie fügte hinzu, nach einem kleinen Zögern, »Horrorfilme« ... Sie tut das, obwohl sie Angst davor hat und ihre Tür danach abschließt. Ich kann es gut verstehen, denn mir geht es genauso.
Zuletzt geändert von Klimperer am 21.03.2013, 11:37, insgesamt 1-mal geändert.

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Zefira
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Beitragvon Zefira » 21.03.2013, 10:29

Hallo Klimperer,
die Geschichte liest sich wie ein Lehrstück über die Aufgabe, das Poetische im Profanen zu erkennen.
Er mag keine exotischen Schauplätze, er bleibt lieber bei seiner Sackkarre. Das wäre mit nur wenigen winzigen Gewichtsverschiebungen lächerlich. Bei Dir ist es nicht lächerlich, sondern bezaubernd und sympathisch.
An einigen Stellen hatte ich das Gefühl, dass Du das richtige Wort nicht findest. Bei dem "spitzen Knochen auf der Fußsohle" zum Beispiel. Es könnte ein Fersensporn sein oder ein Überbein; nicht auf, sondern unter der Fußsohle.
Auch die "kleine Verzögerung" ist ein unpersönlicher, technisch klingender Ausdruck; ich würde es "kleines Zögern" nennen.
Aber das sind Peanuts. Sehr gerne gelesen!

Grüße von Zefira
Vor der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.
Nach der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.

(Ikkyu Sojun)

Klimperer

Beitragvon Klimperer » 21.03.2013, 11:27

Hallo Zefira,

eben wollte ich meinen Kommentar zu deiner Erzählung "Fluchtpunkt" eingeben, da sah ich deinen zu meiner "Sackkarre".

Ich bin froh, dass meine Geschichte bei dir gut angekommen ist, ich danke dir.

Gleich werde ich deine empfohlenen Verbesserungen durchführen.


LG

Carlos


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