Von verlorenen Vögeln

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poeta

Beitragvon poeta » 19.03.2013, 22:52

Von verlorenen Vögeln


Ich bin eine von ihnen, eine wie diese Vögel, die immer wieder ins Jenseits fliegen, sich in einem Himmel verirren, den es so schon längst nicht mehr gibt.

Darum liebe ich es, meine Ängste von den Klippen hoch über dem Meer fallen zu lassen und danach mich selbst, bis mich die Schreie der Möwen knapp über der Gischt auffangen und mit sich nehmen, dorthin, wo ein feiner Sprühnebel aus Erinnerungen an die Zeit danach alle Konturen verwischt.

Nein, ich habe nichts genommen, keine Zauberpilze, keine Drogen. Ich rede immer so, wenn ich hier draußen zu den Vergessenen spreche. Manchmal singe ich auch, tröste und quäle mich mit eigener Stimme, die dünner wird von Mal zu Mal und spröder.

Ich sang sehr schön, damals, als ich dich in mir trug; die Hoffnung, die heranwuchs, den Blicken noch verborgen, wohlgehütetes Staunen klang aus den Tiefen der Stimme und Zärtlichkeit schwang sich mit den warmen Winden empor.

Meine Füße schienen im Fels zu wurzeln, in haarfeinen Rissen Halt zu finden in einem zwar kargen, aber festen Lebensgrund. Ich fühlte mich stark und beinahe sicher, gehalten, und hielt dich fürsorglich warm.

Hielt dich noch, als du aus dem Nest gefallen warst, hob dich, schlaffes Federleichtchen, in meine Handfläche wie in eine Waagschale; zu leicht befunden, zogst du mich bleiern zu Boden. Ich hielt den Atem an, dich noch unter der Erde fest, so lange, bis das Brennen in der Lunge sich ausdehnte und mein Bewusstsein versengte. Dann ließ ich los, ließ mich los, mich fallen und schlug nicht auf.


Tippfehlerkorrektur: Danke Rosebud
Zuletzt geändert von poeta am 20.03.2013, 16:42, insgesamt 1-mal geändert.

Mucki
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Beitragvon Mucki » 20.03.2013, 00:51

Hallo poeta,

dir gelingt hier etwas sehr Schwieriges, finde ich: es ist so unglaublich traurig, was du hier beschreibst. Doch du schaffst es, diese Trauer ohne Larmoyanz zu schildern. Und dadurch berührt es mich umso tiefer.

Saludos
Gabriella

poeta

Beitragvon poeta » 20.03.2013, 08:18

danke für deine resonanz, liebe gabriella :smile:

liebe grüße, poeta

Rosebud

Beitragvon Rosebud » 20.03.2013, 09:14

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Zuletzt geändert von Rosebud am 26.06.2015, 16:14, insgesamt 1-mal geändert.

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birke
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Beitragvon birke » 20.03.2013, 09:21

kann mich rosebud nur anschließen.
ein ganz wunderbarer text, der trägt, der tief berührt, ohne rührselig zu sein - exzellent geschrieben!
chapeau!

lg,
birke
wer lyrik schreibt, ist verrückt (peter rühmkorf)

https://versspruenge.wordpress.com/

poeta

Beitragvon poeta » 20.03.2013, 16:51

hi Rosebud,
ich bin wirklich sehr, sehr angenehm überrascht. vielen dank für dein detailliertes positives feedback, das mir echt mut macht.
ich bin ja eher in der lyrik beheimatet und bin gerade erst dabei, auch prosa für mich zu entdecken.
danke auch für die fehlerkorrektur, meinen eigenen texten gegenüber bin ich sowas von betriebsblind, lese ich immer wieder drüber. ich hoffe, ich hab jetzt alle erwischt :rolleyes: .
ich freue mich sehr, dass diese wanderung entlang der klippen ohne absturz geglückt scheint.



auch dir, liebe birke,
ein herzliches danke für deine ermutigung.
da trau ich mich vielleicht doch ein bisschen weiter vor auf diesem weg. :smile:


euch beiden liebe grüße, poeta

ecb

Beitragvon ecb » 20.03.2013, 19:14

Auch mir gefällt dieser Text ungemein. Er "ist" in vieler Hinsicht, was er beschreibt, ein Federleicht, dem eine paradoxale Schwere eignet, und von daher ungewöhnlich glaubwürdiger poetischer Ausdruck für das, was er erzählen will.

Liebe Grüße
Eva

Mucki
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Beitragvon Mucki » 20.03.2013, 19:18

poeta hat geschrieben:ich bin ja eher in der lyrik beheimatet und bin gerade erst dabei, auch prosa für mich zu entdecken. ...
da trau ich mich vielleicht doch ein bisschen weiter vor auf diesem weg.

Ja, unbedingt, poeta!

Saludos
Gabriella

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Hetti
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Beitragvon Hetti » 20.03.2013, 19:50

Liebe Poeta,

da ist dir etwas gut gelungen. Heute Morgen habe ich mich gewundert, dass du den Text als Prosatext gestaltet hast. Inzwischen hat Rosebud ihn als lyrische Prosa benannt. Mir ist das Lyrische ab Absatz vier gleich aufgefallen und hat mich sehr beeindruckt. Inhaltlich wie sprachlich. Mir scheint fast, mit den ersten drei Absätzen entschuldigst du dich beim Rezipienten für das, was du geschaffen hast. Brauchst du nicht.

Was du schreibst, ist sehr auf den Punkt gebracht und weist auf das Wesentliche. Ich finde, du könntest die letzten drei Absätze auch in Versen strukturieren, (ohne ein Wort zu verändern oder wegzulassen). Die Größe deiner Worte käme dann noch vorteilhafter zur Geltung. So als Prosatext kann man ihn, wegen der gelungen Kürze und Dichte, möglicherweise unterschätzen.

Andererseits: vielleicht warst du gerade durch den Prosaschreibversuch (keine Ablenkung durchs „Verseschmieden“) unbefangen und schöpferisch, so dass diese wunderbaren Worte zu dir gekommen sind.

Sehr gerne gelesen. Habe ich den ganzen Tag im Kopf gehabt.

Liebe Grüße
Dede

Mir gefällt es, wenn du sowohl in Prosa als auch lyrisch schreibst. Nochmals LG

poeta

Beitragvon poeta » 21.03.2013, 08:06

hallo eva,
ich danke dir herzlich für dein schönes lob. besonders freue ich mich, das du meinst ich hätte den richtigen erzählton zwischen schwebend und schwer getroffen, um glaubwürdig und fühlbar zu sein :smile: .



danke gabriella
für die neuerliche bestärkung, freut mich ungemein, verleiht beinah flügel. :engel2:



ach dede,
Sehr gerne gelesen. Habe ich den ganzen Tag im Kopf gehabt.

wie könnte man das noch toppen! was könnte schöner sein, als dass etwas nachhallt :smile: .dankeschön.
du hast ganz recht, er ist im grenzbereich zwischen prosa und lyrik angesiedelt, ob nun prosalyrik oder lyrische prosa ... ? ich neige doch eher in richtung prosa und glaube, dass es durch die langen zeilen schön fließt, das ist aber sicherlich geschmackssache.



ein herzliches danke an euch alle und liebe grüße, poeta


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