Wenige Minuten später saß Sophie mit einer Tasse Tee vor dem Computer und checkte Mails. Erst die privaten, dann die dienstlichen. Die gestrige Mail von Christoph. Sollte sie zu ihm hinüber gehen, damit er wusste, dass sie da war? Sein Auto hatte schon auf dem Parkplatz gestanden, als sie ankam.
Gerade in diesem Augenblick schaute Christoph durch die Tür: „Ach, da bist du ja schon, Sophie. Dann können wir uns gleich besprechen. Aber erst einmal guten Morgen. Hast du denn wenigstens einigermaßen ruhig geschlafen?“
„Geht so, deine Mail und deine letzten Bemerkungen gestern haben mich total belastet. Ich fühle mich so unverstanden.“
„Sophie, die Entscheidung, wie du am besten fährst, kannst allein nur du selbst treffen. Nur du kannst die Feinheiten des Falles die feststellen.“
„Das hörte sich gestern aber anders an. Ganz unmissverständlich hast du mir zu verstehen gegeben, ich soll mich aus dem Fall zurückziehen. Wir überlassen die Entscheidung der Schule, das war deine Ansage.“ Beunruhigt registrierte Sophie, wie es in ihr zu kochen begann. Jetzt nur nicht mit unkontrollierten Emotionen das Gespräch versauen. Am liebsten hätte sie aber geweint und wie ein kleines Mädchen Schutz gesucht. Bevorzugt bei jemanden, der sie an ihren Vater erinnerte. Aber dieser jemand saß ihr gegenüber und fuhr gerade die sachliche Schiene. Deshalb setzte sie fort: „Du hast gestern klipp und klar gesagt, dass für uns nur die Meinung der Lehrerin maßgeblich ist.“
Freddie, hatte die letzten Sekunden am Türrahmen gelehnt und zugehört. „Moin, Chris. Alles klar?“ „Eher nicht, wir haben Probleme an der Elsenringschule“. „Was denn los, Sophie? Erzähl mal. “
Freddie kam nun ganz in den Raum und setzte sich an den Arbeitsplatz gegenüber von Sophie. Er mochte sie und interessierte sich für ihre Angelegenheiten. Augenblicklich sah sie aus, als wenn sie Beistand brauchen könne.
„Ach großes Elend. Und ich mitten drin. Einer meiner Schüler soll die Schule ohne Hauptschulabschluss die Schule verlassen. Und das ist eine riesengroße Schweinerei.“ Jetzt liefen die Gefühle doch aus dem Ruder, Sophie spürte, wie ihr Unterkiefer zu zittern begann. Freddie anblickend atmete sie tief durch. „Ich kann kaum darüber reden, so nimmt mich das mit. Ich versuche es. Chris kann mich dann ein bisschen korrigieren. Nicht wahr, Chris?“ Sie blickte ihn herausfordernd an, erwartete aber nicht ernsthaft auf eine Reaktion..Stattdessen begann sie zu berichten:
„Diesen Schüler betreue ich seit 12 Monaten. Seine Eltern bekamen die Empfehlung von dem damaligen Klassenlehrer Herrn Albers, ihn die achte Klasse wiederholen zu lassen. Es war eine Empfehlung wohlgemerkt, der Junge hatte keinesfalls ein so schlechtes Zeugnis, das er nicht versetzt werden wäre.“
„Das ist jetzt aber nur eine Vermutung von dir, Sophie“.
„Nein Chris, das ist keine Vermutung,“ fuhr Sophie ihn an, „das weiß ich hundertprozentig. Albers selber und die Eltern haben mir das von Anfang an so dargestellt. Und das er diese Empfehlung gab, hing damit zusammen.“ Ab dieser Stelle verlor Sophie Faden und analysierte zusammenhangslos und aufgebracht den sozialen Hintergrund des Schülers. Der Vater komme aus einer kinderreichen Familie, fast alle seine Geschwister bezögen Harz IV und seien in der Gemeinde als problematisch bekannt. Er rackere aber und versuche seinem Sohn ein anderes Leben vorzuleben, damit dieser bessere Perspektiven im Leben erhalte."
„Ja und was ist mit dem Jungen? Weshalb macht der jetzt keinen HSA?“ Freddie versuchte Sophies zu bremsen und wieder auf das eigentliche Thema zu bringen. „Das ist kompliziert zu erklären. Was ich jetzt darlege, ist der neuen Klassenlehrerin und Albers schon seit Monaten bekannt. Nur mir hat niemand Bescheid gesagt. Ist es da ein Wunder, dass ich rumtobe?“
Sophie schlug mit der geballten Faust auf den Tisch. Aber es war klar, dass bald andere Kollegen auftauchen konnten. Wenn diese anfingen, sie auszufragen und, da war sie sicher, ihre Empörung nachempfanden, würde sie einen Riesenkrach mit Chris lostreten, vor allen Leuten. So weit durfte es nicht kommen. Sophie konzentrierte ihre Gedanken und fasste für Freddie zusammen:
Der Schüler habe ihr von Anfang an Probleme bereitet. Zunächst hatte er das Klassenziel der achten Jahrgangsstufe wieder nicht erreicht, diesmal auch formal nicht, mit zwei fünfen auf dem Zeugnis. Deutsch und Sport, beides Fächer der neuen Klassenlehrerin. Für den Schüler bedeutete das Nachprüfung im Anschluss der Sommerferien. Schon damals habe Sophie sich tierisch geärgert, dass so etwas überhaupt möglich sei, aber diese, wie sie es im Stillen auslegte, Schikane, gutwillig als pädagogisches Manöver der Lehrerin ausgelegt. Während der Sommerferien habe sie, Sophie, dann ihre Arbeit gemacht: Deutschnachhilfe für Dennis organisiert, mit dem Vater und dem Schüler ein Sporttrainingsprogramm ausgearbeitet und die ganzen sechs Wochen lang darauf geachtet, das bei der Nachprüfung nichts schiefgehen konnte. Ging auch nicht, wie denn auch bei ihrem Engagement. Dennis erhielt in beiden Fächern eine drei. Irgendwie schien alles in Ordnung. Schien. Ab November aber begann der Schüler massiv die Schule zu schwänzen. Sophie habe sich richtig reingehängt, mehrfach morgens zusammen mit der Mutter am Bett des Schülers gestanden und ihn bekniet, in die Schule zu kommen. Den Schulpsychologischen Dienst eingeschaltet. Dann rief eines Tages die Mutter an und berichtete, die Klassenlehrerin habe ihren Sohn gefragt, was er denn noch in der Schule wolle, er sei doch schon sechzehn, er könne einfach wegbleiben, wenn keinen Bock mehr habe. Da habe Sophie den ersten großen Fehler gemacht: Sie hätte das der Schulaufsicht melden müssen, aber nee, sie sei ja immer so kooperativ, deshalb habe sie nur ein bisschen, aber erfolgreich, schulintern interveniert Daraufhin besserte sich die Lage Zusehens, diverse hochmerkwürdige Einzelheiten überspringe sie jetzt mal, die HSA - Prüfungen kamen, der Schüler auch, und plötzlich, während die Matheklausur noch geschrieben wurde, habe die Klassenlehrerin sie im Flur abgefangen und mit der Mitteilung überrascht, Dennis habe die HSA-Prüfung nicht bestanden.
„Kannst du dir das vorstellen? Der hatte erst Deutsch und Mathe geschrieben, Mathe war noch in vollem Gange und die erzählt mir er wäre durchgefallen? Also da habe ich dann nicht mehr reflektiert, sondern nur noch gehandelt. Im Schulamt angerufen und mich beim Schulrat erkundigt, wie so etwas möglich sei“ Sophie kämpfte vor aufsteigender Wut mit den Tränen.
„Jetzt habe ich vergessen zu erwähnen, dass der Schüler nicht in Englisch beschult wurde und deshalb als Ersatz für die entsprechende HSA-Prüfung eine Präsentation zu einem Thema seiner Wahl abhalten sollte. Das war früher möglich, bei schwachen Schülern.“
“Ja und da liegt jetzt der Knackpunkt“, griff Christoph ein, „Diese Regelung, dass Schüler nicht in Englisch beschult werden, wurde letztes Schuljahr aufgehoben. Voraussetzung für die Erlangung des HSA-Abschlusses ist jetzt das erfolgreiche Ablegen einer Englischprüfung. Dieser Umstand kam bei Sophies Telefonat mit dem Schulrat zur Sprache. Der war aufgebracht, wieso in diesem Schuljahr jemand entlassen wird, ohne in Englisch beschult worden zu sein. Davon wisse er nichts. Der Schüler könne keinen HSA-Abschluss machen. Das sei jetzt ausgeschlossen.“
„Ja, und da ist mir plötzlich eingefallen, dass es ein böses Gerücht an der Schule gibt. Dennis habe damals die achte Klasse nur wiederholen sollen, damit in seiner neuen Klasse genügend Schüler seien, um eine Teilung zu rechtfertigen. Die Klasse wurde inzwischen auch geteilt, und damit hat die Schule ein höheres Lehrerkontingent. Und eine Planstelle für einen Klassenlehrer mehr. Mit dieser gedanklichen Kombinationsleistung bin ich dann zum Schulleiter, Herrn Kortig. Der wurde leichenblass und hat mir nach einigem Hin- und Her zugesichert, dass der Schüler in jedem Fall den HSA bekäme, wenn ich mich nur nicht noch einmal an den Schulrat wende. Er werde das schon drehen. Auf diesen Deal bin ich eingegangen, warum auch nicht. Zwar haben sich die beiden Klassenlehrer schweinisch verhalten, aber ausbaden müsste es der Schulleiter. Der ist fortschrittlich und ich arbeite gut mit ihm zusammen, warum sollte ich ihn ans Messer liefern?“
„Ja, dann ist doch alles bestens, oder?“ fragend blickte Freddie von einem zum anderen. „Ich verstehe nicht, wo ist das Problem?“
Jetzt liefen Sophie doch die Tränen über das Gesicht: „Das Problem liegt darin, dass die Schulkonferenz, bestehend aus sechs Lehrern, beschlossen hat, dass sie Dennis den HSA einfach nicht zuerkennt. Die pokern. Und haben nichts zu verlieren. Denn wenn ich mich jetzt noch einmal an den Schulrat wende und die ganze Sache auffliegen lasse, bekommt nur Kortig den Ärger. Und der wirft vielleicht das Handtuch, bei all dem Mist ,den er zu managen hat. Und genau das wollen sie.“
„Hat der Schulrat sich nicht von sich aus noch einmal gerührt? Der war doch inzwischen involviert?“ hakte Freddie nach.
„Nein, der lässt den Schnee doch auch lieber leise rieseln,“ verächtlich zog Sophie die Nase hoch. „Hat jemand ein Taschentuch?“
Suchend blickten die beiden Männer sich um. In einem der Regale stand eine Rolle Küchenpapier. Chris riss einen Streifen ab und reichte ihn, mit tiefen fürsorglichen Blick in Sophies Augen, hinüber.
„Dieses Dilemma diskutieren wir gerade. Sophie fühlt mit dem Schüler. Ihr geht es um die erlittene Ungerechtigkeit des Schülers. Mir geht es um die Kooperation mit der Schule. Und um Sophie. Denn wenn sie eine Beschwerde nach oben reicht, kann das an der Schule die Hölle für sie werden.“
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