Elke, die Unsichtbare

Bereich für Erzähl- und Sachprosa, also etwa Kurzgeschichten, Erzählungen, Romankapitel, Essays, Kritiken, Artikel, Glossen, Kolumnen, Satiren, Phantastisches oder Fabeln
Estragon

Beitragvon Estragon » 27.10.2012, 16:36

Paul hatte angerufen, er wollte sich mit mir treffen. Er hatte mal in einer Bratwurstbude gearbeitet, leider hatte er die Bratwürstchen viel zu schnell umgedreht. Das war es nicht allein. Es gab vieles, was mir an ihm nicht gefiel.
Doch Paul hatte auch etwas Positives an sich, er war nie beleidigt, jedenfalls hatte ich das immer geglaubt, und er flickte meine Fahrradschläuche, und das war ihm hoch anzurechnen, allerdings rieb er sich mit Komplimenten ein, die aus einem dieser Handbücher stammten, die es in jedem Ein-Euro-Laden zu kaufen gibt.

Wir wollten uns vorm Stadttheater treffen und ich war spät dran.
Er saß schon da, drehte sich nach allen Richtungen um, trug eine Mütze, eine schiefe runde Zipfelmütze, eine Mütze, die ich nicht mal im Grab tragen würde. Er war ein seltsamer Kerl, er hatte niemals schlechte Laune, er hatte niemals gute Laune, er war halt Paul.
Ich setzte mich zu ihm, war verwundert, weil er nichts sagte. Ich winkte, gestikulierte, ich streckte die Zunge raus, er reagierte nicht.

Der Himmel thronte über seinem Gesicht, über seinem Kopf konnte man Schwalbennester bauen, ohne dass er es gemerkt hätte.
Nebenbei bemerkt, Paul hatte unfassbare Augen, mit denen könnte er jedes Schiff versenken, wenn er es bemerkt hätte.

Seine Hände suchten etwas, vielleicht irgendeine Geste, die mir gefallen könnte. Er fasste sich ins Haar, holte keinen Zettel hervor, warum holte er nicht wenigstens einen Zettel hervor?
Er tat nichts außer gucken, er sah mich nicht, wenn man schon guckte, musste man doch auch sehen, er schien so sehr ins Gucken vertieft, dass er mich nicht sah.

Seine hungrigen Augen schauten auf die Straße, gerade so, als würden dort die Antworten auf alle Fragen liegen. Dann guckte er zu mir, als würde er mich nicht sehen.

Wie gerne hätte ich Löschpapier auf sein Gesicht gelegt.

Er wollte mich nicht sehen.

Er war doch nicht etwa sauer, dass ich zu spät gekommen war? Er war es doch gewöhnt, dass ich zu spät kam, ich kam selbst dann zu spät, wenn ich etwas von ihm wollte, wenn ich zum Beispiel wollte, dass er mir den Fahrradschlauch flickte.

Wieder sah er in meine Richtung, und mir reichte es, der spinnt wohl, dachte ich und schrie, Hör mal Paul, sei nicht so albern!
Alles schien für einen kurzen Moment aus seinem Gesicht verschwunden zu sein, alles, wirklich alles, und schließlich war der ganze Paul weg.
Was war bloß in ihn gefahren, war er verrückt geworden oder war ihm etwas eingefallen, würde er wiederkommen und mir irgendetwas schenken, ein zu schnell herumgedrehtes Würstchen vielleicht?

Paul kam nicht zurück
Zuletzt geändert von Estragon am 28.10.2012, 10:09, insgesamt 2-mal geändert.

Nifl
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Beitragvon Nifl » 28.10.2012, 08:57

Hallo Estragon,

gehörte der Text nicht besser im Publicus eingestellt? Da er ja offensichtlich schon veröffentlicht ist, machen Textarbeit oder Änderungsvorschläge ja wenig Sinn?

Der Anfang des Ausschnittes ist im Plusquamperfekt mE. nicht so glücklich gewählt, "hatte" erschlägt einen beinahe.
Und -rein interessehalber- was schadet es einer Bratwurst, wenn man sie zu schnell wendet?

Insgesamt macht mich der Text schon neugierig. Der Paul, ein schräger Typ, einer, der in seiner Welt lebt. Von dem würde ich gerne mehr lesen. In welchem Verhältnis steht er zum Erzähler oder der Erzählerin (ist es Elke?) ? Das ist mir in diesem Abschnitt zu offen. Wenigstens die Geschlechter würde ich gerne wissen.

Mein Liebling ist das Schwalbennest, aus dem keine Zettel hervorkommen.

LG
Nifl
"Das bin ich. Ich bin Polygonum Polymorphum" (Wolfgang Oehme)

Estragon

Beitragvon Estragon » 28.10.2012, 09:51

er ist ihr bruder

Nifl
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Beitragvon Nifl » 28.10.2012, 09:56

..und nun weiß ich auch mit wem ich befroindet war! *hihi
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Estragon

Beitragvon Estragon » 28.10.2012, 10:11

Samsa war Reisender – hing das Bild, das er vor kurzem aus einer illustrierten Zeitschrift ausgeschnitten und in einem hübschen, vergoldeten Rahmen untergebracht hatte. Es stellte eine Dame dar, die mit einem Pelzhut und einer Pelzboa versehen, aufrecht dasaß und einen schweren Pelzmuff, in dem ihr ganzer Unterarm verschwunden war, dem Beschauer entgegenhob.

Gregors Blick richtete sich dann zum Fenster, und das trübe Wetter – man hörte Regentropfen auf das Fensterblech aufschlagen – machte ihn ganz melancholisch. »Wie wäre es, wenn ich noch ein wenig weiterschliefe und alle Narrheiten vergäße«, dachte er, aber das war gänzlich undurchführbar, denn er war gewöhnt, auf der rechten Seite zu schlafen, konnte sich aber in seinem gegenwärtigen Zustand nicht in diese Lage bringen. Mit welcher Kraft er sich auch auf die rechte Seite warf, immer wieder schaukelte er in die Rückenlage zurück. Er versuchte es wohl hundertmal, schloß die Augen, um die zappelnden Beine nicht sehen zu müssen, und ließ erst ab, als er in der Seite einen noch nie gefühlten, leichten, dumpfen Schmerz zu fühlen begann.

»Ach Gott«, dachte er, »was für einen anstrengenden Beruf habe ich gewählt! Tag aus, Tag ein auf der Reise. Die geschäftlichen Aufregungen sind viel größer, als im eigentlichen Geschäft zu Hause, und außerdem ist mir noch diese Plage des Reisens auferlegt, die Sorgen um die Zuganschlüsse, das unregelmäßige, schlechte Essen, ein immer wechselnder, nie andauernder, nie herzlich werdender menschlicher Verkehr. Der Teufel soll das alles holen!« Er fühlte ein leichtes Jucken oben auf dem Bauch; schob sich auf dem Rücken langsam näher zum Bettpfosten, um den Kopf besser heben zu können; fand die juckende Stelle, die mit lauter kleinen weißen Pünktchen besetzt war, die er nicht zu beurteilen verstand; und wollte mit einem Bein die Stelle betasten, zog es aber gleich zurück, denn bei der Berührung umwehten ihn Kälteschauer.

Er glitt wieder in seine frühere Lage zurück. »Dies frühzeitige Aufstehen«, dachte er, »macht einen ganz blödsinnig. Der Mensch muß seinen Schlaf haben. Andere Reisende leben wie Haremsfrauen. Wenn ich zum Beispiel im Laufe des Vormittags ins Gasthaus zurückgehe, um die erlangten Aufträge zu überschreiben, sitzen diese Herren erst beim Frühstück. Das sollte ich bei meinem Chef versuchen; ich würde auf der Stelle hinausfliegen. Wer weiß übrigens, ob das nicht sehr gut für mich wäre. Wenn ich mich nicht wegen meiner Eltern zurückhielte, ich hätte längst gekündigt, ich wäre vor den Chef hin getreten und hätte ihm meine Meinung von Grund des Herzens aus gesagt. Vom Pult hätte er fallen müssen! Es ist auch eine sonderbare Art, sich auf das Pult zu setzen und von der Höhe herab mit dem Angestellten zu reden, der überdies wegen der Schwerhörigkeit des Chefs ganz nahe herantreten muß. Nun, die Hoffnung ist noch nicht gänzlich aufgegeben; habe ich einmal das Geld beisammen, um die Schuld der Eltern an ihn abzuzahlen – es dürfte noch fünf bis sechs Jahre dauern – , mache ich die Sache unbedingt. Dann wird der große Schnitt gemacht. Vorläufig allerdings muß ich aufstehen, denn mein Zug fährt um fünf.«

Und er sah zur Weckuhr hinüber, die auf dem Kasten tickte. »Himmlischer Vater!«, dachte er. Es war halb sieben Uhr, und die Zeiger gingen ruhig vorwärts, es war sogar halb vorüber, es näherte sich schon dreiviertel. Sollte der Wecker nicht geläutet haben? Man sah vom Bett aus, daß er auf vier Uhr richtig eingestellt war; gewiß hatte er auch geläutet. Ja, aber war es möglich, dieses möbelerschütternde Läuten ruhig zu verschlafen? Nun, ruhig hatte er ja nicht geschlafen, aber wahrscheinlich desto fester. Was aber sollte er jetzt tun? Der nächste Zug ging um sieben Uhr; um den einzuholen, hätte er sich unsinnig beeilen müssen, und die Kollektion war noch nicht eingepackt, und er selbst fühlte sich durchaus nicht besonders frisch und beweglich. Und selbst wenn er den Zug einholte, ein Donnerwetter des Chefs war nicht zu vermeiden, denn der Geschäftsdiener hatte beim Fünfuhrzug gewartet und die Meldung von seiner Versäumnis längst erstattet. Es war eine Kreatur des Chefs, ohne Rückgrat und Verstand. Wie nun, wenn er sich krank meldete? Das wäre aber äußerst peinlich und verdächtig, denn Gregor war während seines fünfjährigen Dienstes noch nicht einmal krank gewesen. Gewiß würde der Chef mit dem Krankenkassenarzt kommen, würde den Eltern wegen des faulen Sohnes Vorwürfe machen und alle Einwände durch den Hinweis auf den Krankenkassenarzt abschneiden, für den es ja überhaupt nur ganz gesunde, aber arbeitsscheue Menschen gibt. Und hätte er übrigens in diesem Falle so ganz unrecht? Gregor fühlte sich tatsächlich, abgesehen von einer nach dem langen Schlaf wirklich überflüssigen Schläfrigkeit, ganz wohl und hatte sogar einen besonders kräftigen Hunger.


Nur mal so, schau mal wieviel "hatte" es in der Verwandlung von Kafka gibt...und ein zu schnell herumgedrehtes Würstchen schmeckt nicht

Estragon

Beitragvon Estragon » 28.10.2012, 10:14

er ist natürlich nicht ihr bruder, er ist irgendwer, er spielt keine rolle, er flickt die schläuche der fahrräder von elke, das ist alles, das ist nicht wenig, aber so viel nun auch nicht

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Beitragvon Nifl » 28.10.2012, 16:55

Zum Thema "hatte" -> schlimmer geht es immer. Kenne Autoren, die bewusst die korrekte Grammatik ignorieren, um das Plusquamperfekt zu vermeiden.

Deinen neu eingesetzten Abschnitt kann ich weder inhaltlich noch stilistisch an den ersten knüpfen. Ist das Buch so eine Art loses Sammelsurium? Ein Flickenteppich?
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Beitragvon Zefira » 28.10.2012, 17:01

Hm Nifl, was meinst Du mit neu eingesetztem Abschnitt? Das ist doch ein Kafka-Zitat ...

Ich mag Paul zwar auch, frage mich aber nach der Bedeutung des Titels: Vielleicht ist Paul völlig normal und Elke merkt nicht, dass sie unsichtbar ist?
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Beitragvon Nifl » 28.10.2012, 17:35

oje! *lach ... naja gerade mal vier 'hatte' konzentriert im Gegensatz zu acht bei Estragon. Ich würde sagen, Estragon ist nur ein halber Kafka.
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Beitragvon Ylvi » 29.10.2012, 14:36

Hallo Estragon,

ich mag deine besondere Art des Schreibens sehr gern, auch diesen Ausschnitt hier. Was ich nicht weiß, ob diese Erzählweise, diese Sprache über ein ganzes Buch trägt, ob es einem da nicht "zuviel" wird, ob es nicht eher in eben diesen kleinen Ausschnitten der Menschenweltbetrachtung seine ganze Wirkung entfalten kann. Aber das lässt sich ja nachprüfen. :)
(Wenn du möchtest, kann Lisa dein Buch auch auf der Portalseite unter Veröffentlichungen aufnehmen.)

Liebe Grüße
Flora
Das ist das Schöne an der Sprache, dass ein Wort schöner und wahrer sein kann als das, was es beschreibt. (Meir Shalev)


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