Großartig!

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Elsa
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Beitragvon Elsa » 20.09.2012, 23:36

Jan fühlte sich großartig. Nein, er war einfach großartig! Im CD-Player rockte Gary Moore, während Jan über die Autobahn von Bayern nach Österreich brauste. Er hatte sie so gut wie in der Tasche. Nicht die Autobahn, die Frau. Schon seit dem letzten Telefonat wusste Jan, dass sie in zitternder Erregung auf ihn wartete. Er vibrierte auch, aber eher der Lügen wegen, die er seiner Holden daheim aufgetischt hatte.

»Du fährst nach Österreich? Wieso weiß ich das nicht!«, schnauzte sie ihn heute Morgen an. In den Jahren war ihr Ton immer schärfer geworden. Längst hatte Jan es aufgegeben, eine harmonische Beziehung wiederbeleben zu wollen.
»Schatz, selbstverständlich weißt du es. Ich habe dir schon vor ein paar Wochen davon erzählt. Geschäftsanbahnung.«
Sie lag vor dem Fernseher auf der Couch, er flüchtete ins Schlafzimmer, um die Reisetasche zu packen. Freute sich schon, dieses eheliche Quallager für drei Tage verlassen zu können. Es lief kaum mehr was zwischen ihnen; Jans Angebote im Bett waren selten nach ihrem Lustgeschmack gewesen, schließlich ließ er es bleiben. Sex musste ja nicht um jeden Preis sein.
»Du spinnst ja«, rief sie von der Couch aus, »vielleicht hast du wieder einmal nur gedacht, du hättest es mir erzählt, Träumer, der du bist!«
Jan sprintete zurück ins Wohnzimmer.
»Wahrscheinlich hast du dem Gerichtsfall in der Glotze mehr Aufmerksamkeit geschenkt, als mir zuzuhören, Schatz. Das wäre ja nichts Neues.« Je mehr sie keifte, desto sanfter sprach er. Da wurde sie stets komplett sauer.
»Dann mach schon, dass du weiterkommst«, antwortete sie und starrte auf den Bildschirm.

Er drehte die CD lauter, klopfte den Takt am Lenkrad mit, summte das schlechte Gewissen weg. Drei Tage Lust und Wonne standen ihm bevor. Einfach großartig! Er würde die Lady vögeln, bis ihnen beiden Hören und Sehen verging. Das hatten sie auf der Internetplattform miteinander ausgemacht, auf der sie sich begegnet waren. Rasch waren sie Feuer und Flamme füreinander, warum denn auch nicht? Zwei erwachsene Menschen, die gut die Hälfte ihres Lebens schon hinter sich gebracht hatten, durften sich so etwas doch erlauben. Sie waren sich einig gewesen. Tolle Fotos hatte diese Frau von sich geschickt, eine perfekte Femme Fatale, auf die er sich wie ein Schneekönig freute.

Sie öffnete ihm die Tür; ohne große Worte fielen sie übereinander her. Hungrig nach lang vermisster Sexualität, dürstend nach Erfüllung. Anschließend tranken sie Champagner; noch zerzaust von der genossenen Lust, betrachteten sie einander. Als die Lady ihre Locken zurechtschüttelte, indem sie den Kopf in den Nacken warf, bemerkte Jan die schlecht gemachten Nähte am Haaransatz hinter den Ohren.
Dann warf sie ihm einen Luftkuss mit gespitzten Lippen zu. Normalerweise hätte sich dadurch die Haut ihrer Wangen bewegen müssen, was sie aber nicht tat. Ebenso wenig runzelte sich ihre Stirn, als Jan versehentlich sein Glas auf den Tisch kippte, dabei sah er ihr den Ärger an.
Im ersten Rausch der Gefühle vorhin im Bett hatte er überhaupt nichts wahrgenommen, nun wollte er es genau wissen und ermunterte sie zu einem weiteren Durchgang. Diesmal entdeckte er alles. Sie hatte eine Bauchstraffung machen lassen, unter ihren Brüsten befanden sich ebenfalls Narben, die Oberschenkel zeigten Einstiche, die Folge einer Fettabsaugung. Dieser Körper war runderneuert. Einer Plastikfrau war er sabbernd nachgestiegen!
Süße Verführung im Chat, Tag und Nacht hatte er geträumt von ihr. Als seine Männlichkeit nun in sich zusammenfiel, rollte sie die großen Augen. Er murmelte was von zuviel Schampus und dass er jetzt zu seinem Berufstermin müsse. Als spät abends die Lady anrief, drückte er den Anruf weg, und löschte ihre Nummer.

Nein, sie war überhaupt nicht perfekt, moserte viel, aber sie war seine Angetraute, dachte er auf der Heimfahrt. Er würde sie zärtlich in die Arme nahm, nach ewigen Zeiten wieder mit ihr schlafen und auf ihre Wünsche eingehen.
Bei dieser Vorstellung kehrte ein Hauch von Großartigkeit in ihn zurück. Beim Frühstückskaffee in einer Autobahnraststätte zückte er sein Smartphone und meldete sich von der Internetplattform ab. Nie wieder wollte er so einen Schock erleben müssen.

Jan erstand einen sündteuren Blumenstrauß, parkte in einer Nebenstraße; wenn schon, denn schon, und sperrte ganz leise die Eingangstür auf. Er freute sich schon auf ein verliebtes Lächeln seines Eheweibes.
Vom Obergeschoss drang wildes Gestöhne in die Diele. Jan wurde blass. Er wagte nicht mehr, zu atmen. Fünf Minuten später lief ein nackter, junger Mann pfeifend die Stufen herunter, erstarrte.
Und Jan fühlte sich gar nicht großartig.




alte Version:
Für diese Nacht nahm er ein Hotelzimmer. Drückte den Anruf der Lady weg, löschte ihre Nummer und rief seine Holde an.
»Wie jetzt, morgen schon kommst du wieder?«
»Termin geplatzt. Ich freu mich auf dich, Süße.«

Nein, sie war überhaupt nicht perfekt, moserte viel, aber sie war seine Angetraute, und als Jan sie am nächsten Abend in die Arme nahm, nach ewigen Zeiten wieder schlief mit ihr, ihre Wünsche erfragte, war ein Hauch von Großartigkeit in ihn zurückgekehrt.
Von der Internetplattform meldete er sich beim Frühstückskaffee, den ihm seine Frau mit einem verliebten Lächeln servierte, ab.
Zuletzt geändert von Elsa am 20.10.2012, 11:06, insgesamt 1-mal geändert.
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Elsa
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Beitragvon Elsa » 25.10.2012, 14:55

Hi Nicole, aha, das könnte mir jetzt helfen, wäre eine Möglichkeit... ich hatte es zwar so gedacht, dass es der PE ist, also Erzähler und der Typ sich decken, es keinen auktorialen Erzähler gibt, aber vielleicht würde das der Geschichte helfen.

Danke und liebe Grüße
Elsa
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