Annäherungen

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imagon

Beitragvon imagon » 17.08.2012, 09:09

Annäherungen

1.
Die Grenze zur Mutter ist eine warme dunkle Wand aus Adern, ein telepathisches Kissen aus warmem Fleisch, das Stimmungen aus einer anderen Welt überträgt. Telepathisch zeigt es die Innenansichten der Träume der Mutter, von Glück und Unglück und die Stimmungsausläufer der Jahreszeiten. Die Welt des nachgeburtlichen Zimmers ist noch dünn bevölkert, die Gegenstände darin von einer überirdischen Intensität, von meinem Bett aus betrachtet, zwischen hohen Kissen und einzelnen Schlafwolken. Hexen tanzen im Dunkel des Raumes. Sie sind die Wächterinnen der unsichtbaren Grenze in der Ferne. Schon beim kleinsten Versuch mich zu bewegen tauchen sie blitzschnell mit einem Bein oder einer Hand für Sekunden im Blickfeld auf und berühren mich kurz und lautlos mit ihren Elektroschockern bevor sie wieder in der Dunkelheit verschwinden. Unter dem Bett tobt nachts ein Stier, hebt es an in seiner Raserei, möchte es abwerfen um seine Hörner auf mich zu richten. Manchmal auch ein tiefer Schlaf aus dem ich erwache und dann in der Dunkelheit die Augen eines Teufels auf mich gerichtet fühle. Er steht lautlos neben dem Bett und betrachtet mich ausdruckslos.

2.
Die frühe Kindheit erscheint im Nachhinein wie eine Kette aus Wiedergeburten. Immer wieder erwacht man wie aus tiefem Wasser, mit einem erweckenden Atemzug nach einem quälend langen waterboarding im Jenseits. Das Auftauchen ist immer nur kurz und unterbrochen von rätselhaften Episoden im Totenland. Man erwacht mit einer leicht veränderten Seele, in einem leicht veränderten Land, unter wechselnden Himmeln. In meiner ersten Wiedergeburt sehe ich Schwäne im Frühling an einem milchigen Eissee. Neben mir stehen riesenhafte Personen: Ein Bruder und eine Mutter. Der Wind bläst mir in den Mund und nimmt mir den Atem. Dann wieder an einem endlosen Nachmittag, wieder im Frühling, mit Fieber in einem Bett, es ist 3 Uhr nachmittags. Es öffnet sich keine Türe aber Luft weht durchs offene Fenster und ein angebissener Apfel liegt auf der Decke. Im nächsten Moment kniend mit der Mutter in einer kleinen Kapelle. Es brennen viele Kerzen im Dunkel, Frühsommer. Draußen rauschen die Bäume und es weht Blumenduft herein zwischen die schweigenden Menschen. Trotz der geöffneten Türe hört man keinerlei Autogeräusche, nur einmal eine flüsternde Stimme. Jemand sagt: Eine Mai-Andacht. Dann wieder in einem Bett, in der Sommerdämmerung, dringen die Schreie von Seelöwen aus dem nahen Zirkus durchs Fenster. Jetzt kann ich die Vorhänge genauer betrachten, weil sie endlos vor meinen Augen bewegt und von außen durch das Abendlicht beschienen werden: Blaue Dreiecke, rote Linien, weiße Tupfer, die Landkarte eines fernen Universums in das ich mich regelmäßig vor dem Einschlafen begebe. Es gibt dort auch gelbe Zentren, sonnenbeschienene Planeten, die ich mit meinem Schlafraumschiff anfliege. Ich stehe an der Brücke und gebe Befehle aus. Der Boden des Raumschiffs ist aus Glas. Unter uns fremdartige Flüsse, Seen und Vegetation, in Zeitlupe vorbeiziehend. Die entzifferten Funksignale verraten zum ersten Mal Deine Anwesenheit. Sie enthalten ein Versprechen auf eine Rettung in der fernen Zukunft.

3.
Sonntags ist das Gesicht der Mutter halbseitig gelähmt. Das rechte Augenlid hängt schlaff über den Glaskörper, ebenso unausgeglichen ist die Balance der Mundwinkel. Aus dem gelähmten Auge fließt beinahe eine Träne auf die Tischdecke, das andere lächelt dem Vater zu. Der Vater hat die Angewohnheit die Kondensmilch mit dem Löffel zu schlürfen. Er ist unrasiert und schwitzt noch vom morgendlichen Waldlauf. Der Bademantel ist zur Hälfte geöffnet und spart eine haarige Männerbrust aus. Das Auge der zwischen Sohn und Vater sitzenden Mutter tränt auf der Seite des Sohnes. Mit einem Lächeln erinnert sie den Vater an das Nachterlebnis. Beim Betrachten der Kerzen auf dem Tisch vergehen die Tage, bis schließlich der Körper der Mutter aufsteht, Geschirr abräumt. Irgendwann schließt der Sohn die Vorhänge, drückt auf den roten Knopf des Fernsehers und wartet so lange, bis der Summton immer lauter wird und in kontinuierliches Sprechen einer Frauenstimme übergeht. Es ist die Stimme einer schwarz-weißen Konzentrationslageraufseherin. Nach dem Krieg hat sie einen ehemaligen Häftling wiedergetroffen und man bekommt Rückblenden zu sehen: Durch den Schlamm wird ein halbnackter Häftling schwarz-weiß in seine Zelle geprügelt. Im Hintergrund duscht sich der Vater frei von den Liebesmalen der Mutter. (Duschgeräusche) Einmal laufen nackte jüdische Häftlinge im Scheinwerferkegel durch die Filmnacht. Man sieht die Aufseherin (ihr Fotomodellgesicht in Großaufnahme), wie sie mit spitzem Zeigefinger auf diesen und jenen deutet. Der daraufhin mit einem Spazierstock am Hals aus der laufenden Menge gerissen wird. Der Mittag: Der Sonntagmittag ist eine weite, eiswindumspülte Hochebene. Die Familie sitzt vor Suppentellern. Der Vater versucht, mit seinen Blicken den Sohn in den Bauch zu schlagen. Die Mutter sagt, dass der Spaziergang am Morgen herrlich gewesen sei. Jemand fragt nach dem Salzstreuer. Ob wohl die Aufseherin noch mächtig und blond über dem Lager thront, mit Fingerspitzen tötet und sich Lippen nachschminkt?

4.
Mütter unterwerfen sich ihre Söhne schon lange vor die Erinnerung einsetzt. Mit dem Zigarettenrauch blasen sie ihnen ein Schlaf- und Trübsaalsgift in ihre kleinen Lungen, ein Gift das sie ein klein wenig lähmt, damit sie mit ihren schlaffen Gliedern ein klein wenig länger als sonst in ihren Armen liegen und sich später nicht wie ihre eigenen Väter in Stiere und Mörder verwandeln. Einmal im Blut fühlt es sich an, als ob man in einem von Feen gezogenen Wagen durch die Nacht gezogen wird, unendlich sicher und erlöst. So machen sie sich ihre Kinder zu zwangsweisen Gefährten in der Welt, machen sie schon früh süchtig nach sich und ihrem heroinhaltigen Schattenreich, aus dem auch ich viel zu spät erwachen und zu den Waffen greifen konnte. Der Kampf mit der Mutter aber ist sonderbar. Er wird sogar nachts in den Träumen weitergeführt. Trotz ihrer überirdischen Kampfkünste ist es mir ein einziges Mal gelungen sie zu verletzen: Als sie ihren Kampfschild für einen Sekundenbruchteil abgelegt hatte drang ich mit Blicken in sie ein, an einer Stelle nahe dem linken Auge, und war ihr dabei einen kurzen Moment lang so nah, dass ich spüren konnte wie fremd wir uns sind. Danach war sie still für einen weiteren langen Moment, konnte wohl selbst die kurze Begegnung kaum fassen. Schon am nächsten Tag griff sie wieder an, stand feuerfest in einer brennenden Wiese. Der Kampf sah von Weiten wohl aus wie ein feuriger Tanz zwischen den Flammen, in Wahrheit ging es aber wie immer auf Leben und Tod. Sonderbar sind die Kämpfe, denn jede Verletzung des anderen ist im Grunde die eigene. In den Zeiten des Waffenstillstands pflegen wir deshalb die Wunden des anderen. Sie küsst mich und badet mich und kommt mir näher als in dem schlimmsten Ringen im Kampf. Abends sitzt sie neben meinem Bett und es bleibt unklar ob sie meinen Schlaf bewachen will oder lauert auf den entscheidenden Moment meiner Schwäche.

5.
Vielleicht gab es ja mal eine Zeit, die wirklich sicher war. In der es eine unüberwindliche Sicherheitszone gab, eine Stadt mit einem Hafen, in den keine Schiffe mehr einlaufen und zu der Soldaten keinen Zugang haben. Zum Himmel hin geschützt durch die Projektion der riesenhaften Hand einer gütigen Mutter, tausendfach vergrößert über ein Epidiaskop, und auch an den Wachtürmen waren ihre Wappen-Fahnen gehisst. Sie knatterten im kühlen Ostwind der die Hitze auf der Haut so angenehm abkühlte, dass sich kein Schweißfleck auf den weißen Sonntags-Hemden der Bewohner bilden konnte. Irgendwann musste es solche reinen, sicheren und eiskugelbunten Sonntage gegeben haben, Sommertage in denen man beinahe an jedem Ort der Stadt die sanfte Berührung eines Schutzengels an den Handgelenken spüren konnte und an denen noch keine Scharfschützen in den Schwimmbädern postiert waren.
Gerade an diesen Sommertagen und –nächten scheint auch heute noch alles so sicher zu sein wie in diesen fernen klaren Zeiten. Aber nur auf den ersten Blick. In Wirklichkeit tragen die Menschen kugelsichere Westen und sichern ihre Gärten mit Alarmanlagen. In Wirklichkeit sind die Grenzposten längst bestochen und lassen verkleidete Teufel, Gesindel und Hexenpack passieren. Bis auf einen einzigen, den letzten wachsamen. Erschöpft von den Patroullien reibt er sich spät in der Nacht seine Augen unter der Brille und schaltet dann routiniert die Suchscheinwerfer im Grenzbereich ein. Sie wandern über das dunkelgrüne Gras und zeigen nichts Verdächtiges. Nur wenn er sich kurz von seinen Monitoren erhebt, ins Hinterzimmer geht um sich dort einen eisgekühlten Whiskey einzuschenken und einen Blick auf das Fernsehprogramm wirft, immer dann huschen ein paar verkleidete Teufel hinter den Büschen hervor und über die Grenze, lautlos und mit Kondenswölkchen vor den Nüstern. Die Hufe ihrer Pferde haben sie mit Stoff umwickelt, die Satteltaschen gefüllt mit allerlei freundlichen Masken, falschen Nasen und Lippen und Händen. In ihrem Gefolge: Die aluminiumfarbenen Wolken der Schwermut, der Schneegeruch und das Zwielicht der Sonntage der neuen Zeitrechnung.

6.
Heutzutage sind die Sonntage erfüllt von den Eindringlingen. In der Kirche am Vormittag kletterten sie noch frech an den Wänden empor und schwangen sich affengleich an den Ballustraden entlang. Jetzt haben sie sich lautlos in meinem Zimmer eingerichtet und feixen aus den Fenstern gegenüber. Regelmäßig gegen Mittag ersterben die Eltern in ihren Betten und hinterlassen mich mit einer Wunde vor dem Fernsehprogramm. Am Rande der Wunde werden die Bäume seltener und die Sträucher fast transparent. Es weht ein leichter radioaktiver Wind und alles ist bedeckt von dem durchsichtigen fall out des Gottestages. Die checkpoints am Rande der Wunde sind verlassen, vereinzelt finden sich noch Pappbecher mit Kaffeeresten darin, Zigarettenstummel schwimmen darauf. In einem verstaubten Aktenschrank findet sich der Eingang zu einer Geheimtüre. Die Stufen dahinter führen in einen alten Folterkeller mit einem eisernen Stuhl in der Mitte und einem Apparat zur Fesselung der Stimmbänder. Das Zentrum der Wunde ist bewegungslos, augenlos und nicht mehr bewegt durch ein unterirdisches Herz. Weil sie versteckt in der Stille einen bösen Gott vermuten trennen sich am Mittag meine restlichen Scherpas von mir.

7.
Die Mutter ist ein Mensch des Diesseits und ihre jenseitigen Zwillinge erscheinen nur selten als Fönwind im Frühling oder als Heu-Geister im August. Wenn die Wiesen frisch gemäht sind und das Gras wie versteinert in der frühen Nachmittagshitze, übernehmen sie geräuschlos das Haus. Draußen sitzt der Bauer gekrümmt wie erschossen auf seinem Traktor und zieht unter der Sonne seine Bahnen. Ich versuche seine Gedanken zu erraten aber sie sind zum Stillstand gekommen. Empfindungslos zieht er seine Bahnen in der flirrenden Luft, scheucht weitere unsichtbare Heugeister auf, die durch die Ritzen der Fenster dringen, auf der Suche nach einem einzigen lebendigen Gedanken an diesen Sommernachmittagen finden sie manchmal mich und betrachten mich mit ihren traurigen duftenden Augen. Manchmal überschreite auch ich die Grenze zur Unsichtbarkeit - eine plötzliche Leichtigkeit, ein Kitzeln zwischen den Beinen – und dann das Abstoßen mit den Zehenspitzen vom Boden, schon ohne Gewicht, steige ich müde mit ihnen in die Lüfte. So entkommen wir auch dem Zugriffsbereich des Vaters, sehen ihn weit unter uns immer kleiner werdend, rasend vor Wut. Eigentümlich: Mit jeder Raserei des Vaters werde ich ein bisschen mehr zum Luftwesen, so als speisten sich unsere Energien aus einer gemeinsamen Ahnenquelle und je mehr der eine tobt und stampft, desto leichter und unsichtbarer und kraftloser der Andere. So fliege ich oft still und schläfrig über die Landschaft und verbringe den Sommer im Halbschlaf über der Erde.


8.
Noch hinter der Müdigkeit verspürte ich aber manchmal schon als Kind eine verhinderte Kraft, einen elektronisch gefesselter Gnom in seinem Gefängnis. Beinahe bewegungslos aber mit bis zum Zerreißen angespannten Muskeln sitzt er unter der unsichtbaren Glocke des summenden elektromagnetischen Kraftfeldes seiner Bewacher, spuckt immer wieder geifernd vor ihnen aus, hat längst noch nicht aufgehört an seine Befreiung zu glauben. Seine Bewacher fühlen sich da noch sicher, scherzen, trinken Wodka Red Bull und blasen dem Gnom ihre Zigarettenrauchkringel durch das Kraftfeld ins Gesicht. Nur Du wirst irgendwann in der Lage sein ihn dauerhaft aus dem Gefängnis zu befreien, als eine Heilerin, vertraut mit den Zauberkünsten des Zwischenreichs, mit der Kunst der Körperreisen und der Elektronik von Schutzschirmgeneratoren. Jemand der lautlos die Bewacher mit einem Betäubungsgas unschädlich machen und dann den Gnom aus seinem Gefängnis freisetzen wird, damit er sich mit meiner Kraft vereinen kann.
Das ist dann der Startschuss zur Jugend und wir flüchten durch die Schluchten der Alpen zu der kleinen Pension am Comer See wo wir fiebrig und zum ersten Mal in unserem Leben zusammen Koffer entpacken, in unseren Augen immer wieder das Erstaunen, dass sich uns niemand in den Weg stellt. Bis auf den unaufhörlichen Regen vielleicht, der schon bei unserer Ankunft gegen die Terrassentür prasselt und der sich im Laufe der nächsten Tage zu einer Sintflut entwickelt, die nur noch Spaziergänge in Gummistiefeln und Nachmittage in öffentlichen Schwimmhallen zulassen wird. Abends sitzen wir rauchend und tropfend unter den aufgeweichten Lampions von Sommerfesten während die Straßengeräusche um uns herum zu Musik werden, denken uns aus was wohl mit unserer Zukunft geschehen wird und umkreisen dann in der darauffolgenden Nacht zusammen den Mond. Dieser erste Sommer der Jugend in Gera Lario, in dem die Sonne hinter dem schweren Grau der Wolken nur mit einem Flugzeug zu erreichen ist und keiner weiß wie sie sich dann anfühlt: wie Gletschersonne? Wie Tropenhitze? Hier unten im unaufhörlichen Regen ertaste ich erstmals die Psyche des Weiblichen und sie fühlt sich nass und erdig an, noch ungestaltet und beinahe blind wie eine Landschaft im Februar.

9.
Manche jungen Mädchen aber wissen schon früh um die Weltgeheimnisse, und auch um die toten Dinge und wie ihnen die Seelen entzogen wurden, um den Schmerz der Nacktschnecken wenn sie von Joggern zertreten werden, um die Seilwinden des Schicksals und wie ein Moment aus dem anderen hervorgeht. Auch ihnen wurden die Seelen entzogen, regelmäßig in den Nächten des Missbrauchs als sie bei ihren Vätern lagen und dabei ihre Körper verließen weil der Schmerz so intensiv war. Sie drängten sich dann körperlos durch das Schlüsselloch in den Hausflur und hinaus in die Nachtluft und vereinigten sich wie ein Fischschwarm mit den anderen gequälten Seelen aus den nördlichen und südlichen Reichen der Milchstraße. Nur scheinbar leben sie weiter in ihren Familien, weben als blinde junge Frauen Stimmungen zu den Jahreszeiten, einen Schmerzteppich im Frühjahr, einen Lichtteppich im Sommer, sind aber selbst ohne Empfindung, weil sie ihre Klangschalen in der Kindheit zurückgelassen haben. Und wenn sie doch einmal nachklingen von einem Gefühl dann erbrechen sie es heimlich oder ritzen ein blutiges Abwehrzeichen in Unterarme oder Schenkel. Wenn sie aber einen Ort für ihre Schmerzen gefunden haben sind sie empfänglich für die Stimmen der Engel und anderer elektronischer Botschaften, die ihnen eine neue Identität geben. Mit etwas Glück werden sie zu Nymphen und Dschinns, sanftmütig und mit immer lächelnden Augen. Oder erahnen als Sirenen die Wünsche der Männer im Voraus, schwimmen dann täglich hinaus zu ihren Schiffen oder erscheinen ihnen in ihren einsamen Raumkapseln und Mars-Stationen. Am Abend aber steigen sie wieder abgeschminkt und alleine in ihre zerschlissenen Nachthemden, in einem billigen Zimmer, haben ihr Fischkostüm in den Schrank gehängt, zappen mit der Fernbedienung durch das Spätprogramm und füllen vor dein Einschlafen noch ihre Heroinspeicher für den nächsten Tag. Trotz ihrer unglaublich erscheinenden Macht bleibt der Ort der Schmerzen in ihnen zeitlebens nur unvollständig gesichert, ihr Herz ist immer noch erfüllt von Hunden, die röchelnd an ihren Leinen zerren und deren Kläffen dumpf durch die nicht ganz schalldichten Muskelwände dringt. Nur ein falsches Wort und sie reißen sich los und schlagen ihre Zähne in die Wange des Geliebten, der plötzlich als schlimmster der Verfolger identifiziert wird. Und im gleichen Moment zieht sich reflexhaft ein eiserner Schutzpanzer wie ein Fächer über den nackten Körper der feinfühligen Wesen, die schon im nächsten Augenblick einen giftgetränkten Pfeil aus dem Köcher ziehen. Über die geöffneten Schleusen der Halsvenen fließt Crystal Speed in ihren Blutkreislauf, betäubt ihre Sinne und lässt den Geliebten als Massenmörder erscheinen. Auf Dominastiefeln durchschreiten sie schwer bewaffnet mit Stinger-Raketen auf der Schulter seine vermeintlichen Leichenhallen, loggen sich in sein Gehirn ein und fahren darin sein Abwehrschild herunter. Als letzte Warnung zerstechen sie ihm vielleicht noch die Reifen oder legen ein totes Tier vor seine Türe.

10.
In den Nächten der Einsamkeit aber stelle ich mir Dich als Herrscherin eines fremden Planeten vor. Beim Übergleiten Deiner Welt erscheinen mir die endlosen sonnenbeschienenen rostigen Ruinen Deines Volkes wie bronzene Krustenwälder einer fremden Vegetation. Auf der Nachtseite des Planeten durchziehen orange Magmaströme das Dunkel wie die Adern einer Netzhaut. Tief unter dem lautlosen Raumschiffs stelle ich mir jaguarbemäntelte Medizinmänner vor, deren Augen sich wie hypnotisch an mein Fluggefährt beim Landeanflug heften.
Schon zu Beginn der Expedition fühle ich Dein allwissendes Gehirn auf mich gerichtet, fühle mich von seinen Windungen wie von einem dunklen Labyrinth angesaugt, verloren in den Schatten einer andersartigen Wahrnehmung und rätsele über die mir verborgenen Bedeutungen die ich in Dir hervorrufe. Nur mit Mühe kann ich der Versuchung widerstehen wie ein Kind in Deine Arme zu laufen um mich trösten zu lassen von den unendlichen Strapazen die der erzwungene Schlaf im Äther in mir hinterlassen hat. Die Raumwunden verbinden zu lassen von Deiner Gaze, von der ich noch nicht weiß ob sie mich heilen würde oder narkotisieren. Am Übergang in die andere Zone aber wacht zunächst der Schlaf. Er kriecht mit schwarzen Mündern über die sterilen Linoleumstische der Pilotenkanzel und leckt gierig an meinen Wunden. Das Raumfieber weicht nur langsam aus dem Körper und mit ihm die künstliche Erinnerungslosigkeit der Inkubatoren.
Bin ich ein Kind? Eine Pflanze? Das Malmen einer fernen Sternenkollusion?
So kurz war der Traum aus dem ich mit dem Geklimper von Silberlöffeln auf Frühstückstassen erwache. Befühlt und betastet von einer Dusche aus Augensplittern und schließlich als harmlos befunden, erhalte ich die Erlaubnis zu einem Spaziergang in den angrenzenden Arkaden, deren Ornamente sich im Aluminium des Raumanzuges spiegeln.
Später, auf der Terrasse eines Strandcafes, reicht man mir eine Sonnenbrille gegen die Strahlung und gekühlte Milkshakes gegen die Hitze der Generatoren. Mit meinen Zehen hinterlasse ich kryptische Figuren auf der windlosen sandigen Oberfläche des Planeten. Und wüsste ich nicht, dass sie unmittelbar nach meinem Verschwinden von Dir sorgsam verwischt würden, ich hätte glauben können, sie seien für die Ewigkeit in dieser witterungsfreien Zone.
Du bist grausam zu mir in diesen ersten Tagen und bestrafst mich für meine verbotenen Exkursionen mit den grellen Lichtpeitschen Deines Frühlings und der lähmenden Schwerkraft Deines Planeten. Und immer wieder geben meine Geräte Alarm in diesen endlosen Frühlingsstunden, als die Zeit gefährlich gedehnt erscheint zwischen den Zigaretten, so als fiele man dazwischen in einen gläsernen Abgrund auf einen belanglosen Grund zu. Kaum lässt sich die Erleichterung beschreiben, mit der ich regelmäßig in mein schwereloses Bett falle und dann erfrischt am nächsten Morgen erwache um den Tag mit Experimenten zu füllen, Blätter, Mollusken und neue Gerüche zu sammeln, die ich jetzt im Übermaß an den langsam eisfreien Bächen und Hinterhöfen finde. Gebe mich schläfrig den fernen Gluckslauten des Schmelzwassers oder dem Lichtspektakel beleuchteter Springbrunnen hin. Sauge die Stimmungen in den immer häufiger öffnenden Eisdielen in mich auf oder bestaunen die diamantenen Bohrtürme in den angrenzenden Wüsten. Jage dann meine Eindrücke digitalisiert auf Leitstrahlen in Richtung des heimatlichen Sonnensystems, sind sie doch in dieser Form unverfälschbar durch die harte Strahlung der Radiopulsare und der ächzenden Supernovae-Explosionen. Der allabendlichen Funkspruch zur Erde wird mir zunächst zur Gewohnheit und dann immer gleichgültiger, so als hätte ich keine Rückreise über Lichtjahre mehr anzutreten. So werden auch meine Berichte kürzer und kürzer, um dann nur noch die Stimmungen einzufangen, mit denen dieser Planet seine Fremdlinge jagt, grell, bunt und rätselhaft über die Städte und Ebenen jagt, vorbei an Kellerfenstern hinter denen sich echsenhaft-dunkle Schatten buckeln, an körnig geweißten Häuserfassaden und octopusähnlichen Tiergeschöpfen, die der Winter blass und rotgeädert hinterlassen hat.
Aber wo bist Du? Über Jahrhunderte bin ich Deinem Leitstrahl mit meinem Raumschiff gefolgt, narkotisiert in meiner Trancekabine, die Begegnung in unendlich vielen Träumen vorwegnehmend. Und auch träumend vom Gewitterregen auf den staubigen Terrassen meiner Kindheit, von verbrannter Kinderhaut unter schattigen Farnen, nächtlichem Erwachen in Bettenschluchten, modernden Wasserkübeln, Speichel auf Plastikspielzeug und bitteren Anästhetika. Bist Du vielleicht dieser fremde gelbe Katzenhimmel oder der stahlblaue See? Der See blickt mich aus seinem blinden Auge an und erkennt mich noch nicht. Er sieht nur das All über sich und in mir, es ist Niemand der mich erblickt und auch die vergangenen Augen, sie sind längst tot oder erblindet, wie alle Toten verschlossen in einem fremden Leben, in Totenhöhlen, unerreichbar für Gesänge und Gebete, taub und erblindet: heilig in ihrer Stille unendlich langsam verblutend.
Der Sommer kommt auf sattellosen Pferden und rotzt mit seinen Doppelsonnen die verloren geglaubten Puzzleteile von Kindheitsgeschichten auf mein Gehirn: Ich hatte eine Mutter, die war eine Wiege aus Adern. Ich wohnte einsam auf meinem Planeten, war blind vor Gefühlen und konnte nicht denken noch sprechen. Die Tage waren dünn wie Alabaster, die Nächte aus steineren Lamellen. Unter den Betten lagen wilde Stiere, im Morgengrauen traten linkische Teufel ins Zimmer. So jagen die Apachen des Sommers donnernd über die Ebenen des Planeten mit ihren zitternden Pollenwolken und treffen mich mit ihren vergifteten Erinnnerungspfeilen. Der heimtückischer Überfall der Sehnsucht überrascht mich badend und schutzlos im Sumpfgürtel der Raumstadt mit ihren fernen glitzernden Kuppeln. Vom Ufer her schwirrende Geräusche, wie von fernen Relaisstationen, von wiegendem Grases oder dem geräuschvollen Bildschirmschoner des hiesigen Sommers, der sich schon bei einer Handbewegung drohte aufzulösen um die software des nahen Herbstes zu starten. Aber noch protzt der Sommer mit seinen doppelten Sonnen und es riecht nach Sonnenöl und Kerosin und fast meint man das Geplauder und plätschernde Gelächter und die vom Wind zerrissenen Rufe von Urlaubern und beach volley ballern zu hören. Wie Nadelstiche in den Herzen der Einsamen fühlten sich die Geräusche an, unverständlich und bruchstückhaft, bis auf einmal der Mittag in seiner Ewigkeit und Stille vor mir liegt. Das Licht tropft milchig und zäh wie Honig von den unbewegten Blättern und die Uhren vereisen unter der brütenden Hitze. Ich schwitze still an den Innenwänden des Herzen, das einzige Gegenüber: ist das Geräusch des Windes und das Surren der Festplatten in meinem Rucksack. Die Mittagsstunde markiert den vollkommenen Stillstand der Zeit auf Deinem Planeten, die Zeiger der Messgeräte kommen zitternd zur Ruhe und nur eine Hummel kreist über einem frischen Grab aus dem ein Toter schweigt. Die Toten auch hier: kaum verständlich ihre Selbstgespräche und ihr sinnloses, unverständliches Gründeln in ihren einsamen Erinnerungen. „Midi, c´est l`heure de la mort“, die Totenstunde mit ihrem Summen und unmerklichen Vibrationen. Die Einsamkeit der Zeichen in dieser verfluchten Welt mit ihren blinden Spiegeln und ohne Dein erhofftes Antworten. Fast glaube ich jetzt Deine Stimme zu hören oder ist es nur das Ächzen der stählernen Startrampen meines Raumschiffs an den Ufern Deines Meeres?
Gibt es dich denn unter diesen fremdartigen Sternbildern? Und was gelten Deine Versprechungen unter dem Einfluss der hier für mich unentschlüsselbaren Horoskope? Du bist doch auch nur eine Tote unter Toten und Dein Blick nur mein eigener, so wie es immer war. Ich bin der einzige der mich erblickt und ich sehe darin nur mich wie in einem Spiegelkabinett unter tausenden von Augen, die meine eigenen sind. Und erst jetzt, fern Deiner Augen, sehe ich: Es sind nicht die Menschen, die uns umgeben sondern die Inseln aus Zeit mit ihnen, die in uns nisten, die eitern und erlösen, angeblickt nur von uns selbst. Ein Teil von uns verschwindet in den Augen der Liebenden wie in den Fernen des Alls, was uns bleibt ist der Jemand in uns, der uns sieht und unsere Erinnerungen, einsam vielleicht aber sicher geborgen noch hinter dem Ich. So wie das Auge nicht sich selbst erblickt, so stehen unsere Erinnerungen und Träume einsam in uns, wie die Sedimente auf einem fernen unentdeckten Planeten, auf dem das Leben noch nicht erwacht ist.
Der Herbst kommt schleichend und saugt mit seiner Kühle das Fett aus den Schenkeln des Sommers. Mit seinen Chamäleonaugen blickt er noch einmal träge zurück und treibt mich dann mit seinen Gewittern weiter über den bunten Planeten. Der See duckt sich jetzt unter den aufheulenden Winden, versteckt sein Anlitz in den Tiefen des Wassers unter dunkelnden Algen. Wenn es noch etwas zu sagen gäbe, so sollte es jetzt gesagt werden, vor dem drohenden Stillstand im Inneren des schwarzen Loches des hiesigen Winters. Bevor die zuckenden Erinnerungen endgültig zum Stillstand kommen in den Bernsteinsedimenten dieses Planeten. Und selbst wenn die Sekunden sich wieder dehnen sollten, irgendwann, und selbst wenn die Schafotte des Herbstes stumpf werden sollten, selbst wenn die Redezeit der Tiergötter wieder verlängert werden sollte im Frühjahr: alles noch Sagbare sollte jetzt gesagt werden. Mein Raumschiff ist startklar für den Rückflug aber Du sagst nichts und streichst nur als Wind durch meine Haare, Du schmunzelst vielleicht und bewahrst meine Fragen auf ewig in Deinen unsichtbaren Kammern.


11.
Auf einer Lichtung im großen, grüngefiederten Mischwald unten am Fluss steht die holzgezimmerte Werkstatt Deiner Augäpfel. Der Handwerker hat die Hände eines Goldschmiedes, sie riechen nach Harz und Bienenwachs. Am Morgen geht er mit Plastiktüten umher und sammelt lockeres Erdreich ein, von verschiedenen Stellen des Waldes, um daraus, auf leichtem Feuer, den Annelinfarbenersatz für Deine schillernde Iris zu gewinnen. Gelatine und Waldhonig sind die Grundsubstanz Deines Augenlichts. Der Handwerker will nicht genannt sein, nur unter dem Siegel der größten Verschwiegenheit zeigte er mir die feinen Werkzeuge im Innern der Werkstatt. Seine Kinder haben es in der Stadt zu etwas gebracht, aber er sagt das mit großer Traurigkeit, denn damit ist besiegelt, dass Deine Augen die letzten ihrer Art sein werden.
Der Torfstich Deines Herzens liegt nur ein paar Steinwürfe von meinem Haus entfernt. Männer mit weißem Atem vor dem Mund, von olivfarbenen Parkas gewärmt, stechen den Torf Deines Herzens, wenn es am kältesten ist, am kürzesten Tag des Jahres. Mit schwarzen Lederhandschuhen kneten sie die kalte Erde stundenlang, bis sie weich genug ist um die Gussform aus Flusseis zu füllen. Dabei fällt Ihnen des Öfteren die Asche ihrer Zigaretten in die zähe, lebkuchenbraune Masse, die langsam unter dem Gefieder Deiner Brusthöhle zu pochen beginnt.
In Deine, aus Taubenschnäbel geschnitzten Ohrmuscheln flüstere ich Dir all diese Geheimnisse und auch meine Sorgen. Denn ich habe munkeln gehört, dass unsere Liebe eine unreine Legierung sei aus Aztekengold und Zelluloid.

12.
Einmal bist Du die Frau eines Menschenfressers. Du kraulst ihm den Bauch und führst ihm den Haushalt. Du zerlegst ihm seine Fleischmahlzeiten und verstaust sie in überdimensionalen Tiefkühltruhen. Du selbst bist Vegetarierin und weinst heimlich auf Deinem Zimmer über seine abartigen Neigungen. Und dann bewunderst Du ihn wieder für seine Muskeln, die er in seinem hauseigenen fitness-Studio für Dich trainiert. Ja, ich bins, der dann, wenn er im Keller Gewichte stemmt Dich anruft von der Telefonzelle auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Ich sehe Dich verwundert den Hörer abnehmen und sogleich wieder auflegen in der Sorge er könnte Dich beim Telefonieren überraschen und dann vielleicht aus Eifersucht Deinen Körper nicht nur im Liebesspiel erobern sondern im wahrsten Sinne Dich fressen als seine köstlichste Rache-Mahlzeit. Du hast Angst vor ihm aber Du schätzt auch seine Stärke und Männlichkeit wenn er sich morgens nach der Dusche mit scharfem Messer rasiert und die eingetrockneten Blutsspritzer der gestrigen Abendmahlzeit aus den Mundwinkeln wischt. Gegen 7 Uhr verlässt er dann regelmäßig das Haus und macht sich in seinem weißen gestärkten Hemd unter dem modisch-braunen Anzug auf den Weg in die Arbeit. Einmal träumte mir, ich würde Dich dann besuchen in Eurem Haus und wir tränken dann schon zum Frühstück den angebrochenen Wein vom Vortag. Du umarmst mich wie ein junges Mädchen das aus den Fängen eines Monsters gerettet wurde und wie zur Belohnung wedelst Du mit einem fertig gedrehten Joint über Deinem Kopf. Als wir unter den Inhalationen dann immer tiefer in das Herz des anbrechenden Tages versinken willst Du mir plötzlich zeigen was ihr des Nachts in Eurem Bette treibt und ziehst Dich kurz zurück um Dich umzukleiden, auszukleiden, das Schlafzimmer vorzubereiten während ich noch die Reste des Frühstücks verstaue, die Brösel vom Boden picke und den vollen Aschenbecher in die Mülltonnen vor dem Haus leere – als ich plötzlich von Weitem Deinen Mann in seinem schwarzen Volvo langsam und kieselknirschend den Weg entlangrollend näher kommen sehe. Er lächelt breit und Du vermutlich auch, aber nicht in den Netzstrümpfen die ich mir vorgestellt hatte sondern schon in Küchenkleidung mit blutiger Schürze, in den Händen ein frisch geschliffenes Messer.

13.
Und einmal bist Du eine jugendliche Anhalterin mit kurzem Rock. Du steigst zu mir in meinen Jaguar aber ich bin schon ein Greis mit welker Haut und einem Körpergeruch von getrockneten Zigarren. Dahinter erkennst Du nicht das Kind in mir, ein in diesem alten Körper wie in einem Sack eingenähten Säugling. Draußen höre ich Dich sprechen mit dem Greis, während ich mich mit lauten Rufen vergebliche versuche bemerkbar zu machen und immer wenn mir ein Lebenszeichen gelingt stellt er die Musik seiner Luxus-Stereoanlage lauter.

14.
Einmal bist Du nicht sichtbar. Selbst mit Brille nicht scharf zu stellen. Deine Haut duftet nach nichts und es ist auch nicht vorzustellen wie Du wohl sprichst. Sorry, sagt jemand, hier können Sie heute nicht durch. Geschlossen, gehen Sie doch zu den anderen Sehenswürdigkeiten, dem Aquarium mit den schwach elektrischen Fischen oder zu den Eisbären im Gehege. Zur Astroshow, dem Feuerwerk oder zum Schönheitswettbewerb. Sie können hier warten bis Sie schwarz werden, verhungern oder verdursten aber es wird heute kein Gespräch geben.

15.
Einmal bist Du mit mir auf einer Insel in einem tropischen Land und fragst mich um die Mittagsstunde im heißen Sand unter dem irrsinnigen Blau des Südseehimmels mit seinen messerscharfen Wolkensplittern und knatternden Winddrachen, fragst mich, ob ich dieses eine Leben mit Dir verbringen will. Als wir miteinander spielen unter dieser unendlichen Sonne und gerade so glücklich sind über das erstmalige Aufbrechen unserer Körper. Beim Rückflug dann versagen die Triebwerke unserer Maschine und wir stürzen ins Eis der peruanischen Anden. Auf dem Fußmarsch durch den Schnee zurück in die Zivilisation stirbst Du dann neben mir in der Kälte und ich rette gerade noch Dein Herz, das unter einer Eiskruste aufgehört hat zu schlagen.

16.
Vor mehr als 3000 Jahren warst Du eine Muttergottheit und wachtest über die Fruchtbarkeit der Felder im minoischen Kreta, parfümiertest den Frühling mit dem Geruch von Orangen, den Sommer mit Brandgeruch und den Herbst mit einer Mischung aus Regen und kaltem Sand. Nahmst nachts die geschundenen Körper der jungen Krieger in das Dunkelblau Deiner Brust, streicheltest ihren Kopf und bliesest ihnen zärtlich die Angst durch die Ohren aus. Überliefert sind auch Erzählungen in denen Du mit überdimensioniertem Daumen und Zeigefinger den Helden vorsichtig um die Lenden ergreifst um ihn mit einer ausschweifenden Geste Deines Armes über das Meer fliegen und ihn dann, unmittelbar vor den Schwertern seiner Gegner nach oben in den Himmel steigen zu lassen. Mit dem Wiederaufblühen der Natur im März hast Du ihn selbst geboren und dann jedes Jahr aufs Neue zu Deinem Geliebten bestimmt und damit das Wachsen ermöglicht. Ihn dann am Ende des Sommers als Jahreskönig geopfert, zerstückelt und unter die Erde gemischt, nicht ohne die Gewissheit von Dir im Neuen Jahr wiedergeboren zu werden. Hat es Dich wirklich gegeben? Oder ist der Kouros aus Elfenbein und goldenen Schlangen aus Knossos nur die Fälschung eines Ärchäologen, der sich nach seiner Mutter sehnt? Die Isotopenbestimmungen werden es zeigen und entscheiden ob wir gewiss sein können nach dem Schlaf wieder aufzuwachen.


17.
Im Schlaf dringen rote Teufel durch die Öffnungen des Schädels. Nur nachts sind sie beweglich, nisten sich dann in der Dämmerung ein und verstecken sich vor dem Licht des Tages in den dunklen Höhlen des Stirnhirns. Sie paktieren mit den Wächtern der Nacht, sind seit langem per Du mit diesen Verdunklern, die ihnen das Startsignal geben: Jetzt! Sie schlüpfen auf den Nebeln des ersten Halbschlafs in mich hinein, in die Tundra der Übergangslandschaft vom Wachen zum Schlafen, überzogen vom Frost der ersten Träume. Sie sind Taschendiebe und greifen berührungslos in meine Taschen, berauben mich jede Nacht meiner Kreditkarten und Identitätsnachweise, so dass ich mich am Ende namenlos in einer unbekannten dämmrigen Traumstadt an einem Meer wiederfinde.
Beispielsweise auf einem Fest zu meinen Ehren, auf einem Schiff im Hafen, mit edlen Gästen und kostbaren Getränken. Der Traum hat zwei aus mir gemacht: Der eine genießt den Trubel und die Aufmerksamkeit. Er bewegt sich im schwarzen Anzug zwischen den Gratulanten, nimmt Glückwünsche entgegen und raucht und trinkt wie ein Mensch der ewig zu leben gedenkt. Und der andere weiß um die Illusion des Glücks. Er sieht die noch zögernden Einsatzkommandos am Ufer, schussbereit und nur auf den Einsatzbefehl wartend um zuzuschlagen und den anderen, den Maßlosen von uns beiden, der jetzt gerade glücksstrahlend die Außenministerin umarmt, lebenslang festzusetzen.
Oder in einem anderen Traum nach einem der glücklichsten Abenden mit Dir vor dem Kamin und steely dan Musik und berauschenden Drogen, noch in den Tagen mit mechanischen Plattenspielern. Da träumte ich mich auf einem riesenhaften Bett niedergestreckt und ein Magier macht sich daran uns unsere Seelen zu entziehen um damit den Kessel einer ebenso riesenhaften stählernen Lokomotive zu beheizen. Und als sie schon beginnt sich in Bewegung zu setzen, gelingt mir als Einziger die Flucht durch ein Fenster des Raumes dessen Wächter für eine Sekunde abgelenkt waren durch das Ächzen der eisernen Räder.
In der Zeit Deiner schweren Krankheit träumte mir, dass ich in ein billiges Rasthaus einkehre und Dich als Frau des Wirtes erkenne. Er ist ein grobschlächtiger Mann und hält Dich als seine Gefangene und Sklavin. Nachts versperrt er die Türe hinter Dir und Du hast gelernt Dich vor ihm zu versperren wenn er sich auf Dich legt. Der Teil Deines verschlossenen Ichs wurde über die Jahre zu einer stählernen Festung mit stählernen Toren und stählernen Soldaten. Als eine in Dir Verschollene kommst Du an meinen Tisch und ich erkenne sofort die Flaschenpost mit einem Hilferuf in Deinen Gedanken. Auf einer Serviette schreibe ich Dir eine Antwort, Du nimmst sie und notierst mir auf der Rückseite den Bauplan des Hauses mit einem Kreuz an der Stelle Deines Zimmers. Im Voraus sehe ich mich, wie ich Dich des Nachts entführe aus Deinem Kerker mit fettverschmierten Fenstern und öligen Pfannen als plötzlich unser Fluchtplan unter den Augen Deines Mannes auf den Boden fällt und Deine Befreiung für immer vereitelt.
Ein anderes Mal träume ich von mir selbst als Zauberer auf einer Bühne. Mein größter Trick ist geglückt und die Zuschauer werfen mir Blumen zu, die ich sogleich in Tauben verwandele noch ehe sie auf den Holzbrettern aufschlagen. Es ist mein größter Triumph aber als ob im Traum und im Leben alles regiert wäre durch das Gesetz der Verkehrung von Glück und Unglück, finde ich danach mein Zimmer abgesperrt und versiegelt vor wie einen Tatort. Nur von Ferne und verstellt von sich reckenden Hinterköpfen sehe ich Polizei meine Kissen und Regale durchwühlen, zwänge mich panisch durch die Menge um einen letzten Blick auf meinen ermordeten Doppelgänger zu erhaschen, dessen Tod, das weiß ich im Traum, das endgültige Ende der zaubervollen Jugendzeit markiert.

18.
Wenn es gelingt zu schlafen und in der Traumblase scheinbar sicher durch die Nacht zu reisen erwache ich manchmal um Stunden verspätet. Die Wohnung ist dann so still als befände ich mich als letzter in einem Evakuierungsgebiet. Draußen sind die Strandkörbe verlassen, die bunten Sonnenschirme flattern vor den schwarzen Wolkentürmen und die Tiefkühltruhen in den Supermärken sind bereits ohne Strom. Niemand hat einen Abschiedsgruß hinterlassen und ich kann nur ahnen, dass alle in großer Eile aufgebrochen sind, in eilig gecharterten Reisebussen. Um mich aber sammeln sich die Stürme, zerwühlen die Tageszeitungen in den verlassenen Kiosken und die Schatten der Meteore wachsen über die Landschaft. Die Fliehenden sehen hinter sich den sich immer weiter verdüsternden Himmel, in der Ferne schon von ersten Drachen verseucht.


19.
Ein Nachtschwärmer bin ich, vielleicht auch ein Vampir: Längst gestorben aber des Nachts immer noch geschäftig in meinem Schloss in den Karpaten. Erst nach Mitternacht treffen wir uns regelmäßig auf dem chat server und wundern uns beide über unsere Schlaflosigkeit. Du bleibst lieber anonym, bei Deinem Nickname, weil Du glaubst ich würde sonst in einem mit Erde gefüllten Sarg zu Dir reisen um mich mit meiner Gier in Dein reales Leben zu mischen. So aber fühlst Du Dich sicher auf Deinem video screen und erscheinst überrascht wenn ich Dir davon erzähle, dass nach dem kurzen Rausch des Bisses bei Vampiren eine tiefe Trauer einsetzt weil sie eine Freundin verloren und stattdessen eine seelenlose Sex-Gefährtin gewonnen haben. Schon in dem Moment in dem sie ihre Zähne aus dem Hals lösen, vielleicht mit einer kurzen Erektion, tauchen sie wieder ein in ihre Einsamkeit, blicken nach Innen und sehen dort die ausdruckslose Reihe ihrer früheren Opfer, die selbst beim pas de deux den Blick nicht erwidern sondern starr auf den Boden gerichtet haben. Warte, sagst Du, erzähl gleich weiter, und holst Dir noch ein Glas Wein zur Zigarette. Im Off schüttelst Du nachdenklich den Kopf, ein wenig verstört aber gleichzeitig zuversichtlich dass Du mich auf irgendeine Art erlösen könntest von meinen Obsessionen. Als Du wieder auf dem Bildschirm erscheinst verbirgst Du geschickt Deine leichte Beunruhigung und zeigst mir nur Dein neugieriges und scheinbar abgeklärtes Lächeln, während ich die Angst nur im leichten Zittern des roten Weines in Deinem Glas erkennen kann. Erzähl!
Es ist fast so als könntest Du durch die verspiegelte Einwegscheibe meiner Worte noch hinter meine Obsessionen blicken, in einen Raum, den selbst ich noch nicht gesehen habe. Es fühlt sich an als wärst Du vertraut mit diesem ungeöffneten Raum, aus dem heraus ich seit Jahrhunderten die Welt betrachte, lüstern und einsam zugleich, verzweifelt über die seltsamen Verirrungen meiner Wünsche. Der größte Wunsch aber wäre, dass Du Dich jetzt sofort mit einem Pferdeschlitten auf den Weg in meine dunkel-verschneite Welt machst. Im Schutz der leichten Bewölkung bliebest Du ungesehen von meinen Bewachern, den Werwölfen und Kindersoldaten. Und wenn Du mir jetzt im chat Deinen Klarnamen verrätst würde ich Anweisung geben, dass man Dich unverzüglich eintreten lässt wenn Du mit Deinen Fellhandschuhen an das schwere Holztor klopfst.
Ich stelle mir vor, dass ich Dich in einen roten Umhang gehüllt bewirte mit einheimischen Spezialitäten und schweren Weinen. Wie unerschrocken Du da sitzt in Deinem strech-Kleid mit nur einem Träger, bewaffnet mit einem hier unbrauchbaren kleinen goldenen Zierrevolver den Du Dir an die Wade geschnallt hast. Als der Morgen dämmert lasse ich es zu, dass Du mir dabei behilflich bist bei der Injektion des Narkotikums um mich dann anschließend tief betäubt in mein Wasserbett in den Katakomben des Schlosses zu betten. Weil ich mir insgeheim wünsche, Du würdest jetzt einen Holzpflock aus Deinem Rucksack ziehen um ihn mir mit einem Hammer ins Herz zu treiben - um mich aus dem Kreis der nächtlichen Wiedergeburten zu erlösen und wenigstens meine Seele zu erretten.

20.
Und einmal bist Du eine daoistische Schutzgöttin und weist schon vor Jahrtausenden den Seefahrern den Weg, fliegst hoch über ihren Schiffen über das Meer und hältst ihre Route im Auge oder fängst tief unter dem Meeresspiegel die Ertrinkenden auf mit Deinem Göttermund. Wie kein anderer Gott bist Du vertraut mit dem Wasser und seinen Strömungen, mit Deinen Röntgenaugen siehst Du durch die Nebel auf dem Meer, durch die Wasseroberfläche und die Fischschwärme und bis auf den Grund der schlammigen Herzen der Matrosen. Nur sehr selten erscheinst Du ihnen in weißem Kleid und tang-grünen Augen auf dem Schiffsbug stehend, immer aber bist Du da im Moment kurz vor dem Ertrinken, hinter Millionen von Luftblasen, die in der Panik aus ihren Mündern und Nasenlöchern sprudeln, holst sie dann mit sicherer Hand unter Deinen Schutzschirm, leihst ihnen das Mundstück aus Deiner göttlichen Sauerstoffflasche.
Du bist aber auch die Göttin des Feuers und bist wie niemand vertraut mit den Flammen und Napalmbomben. Erscheinst den Verbrannten und küsst ihnen mit Deinen kühlenden blauen Gel-Lippen die Wunden. Oder brichst im letzten Moment durch glimmende Türen, bahnst Dir den Weg durch einstürzende Deckenbalken und trägst die fast erstickten Bewohner auf Deinen Asbesthänden ins Freie. Einmal warst Du wohl eingenickt vor Deinem Himmelsteleskop. Im Schlaf hörte ich nicht wie die Fenster von Molotow-Cocktails zersplitterten und die Vorhänge in Brand setzten und im Aufwachen wusste ich schon, dass Du dieses Mal zu spät kommen wirst. Seither trage ich die Erinnerung an die Nacht der Flammen tief verborgen unter einem kühlen Meer, wähne mich Nachts zur Beruhigung auf Polarexpeditionen auf weißen Eisschollen, in Schneestürmen oder im Sprung von einem Felsen in klares kaltes Wasser. Nur manchmal spüre ich dann von Ferne Deine Anwesenheit, immer den Blickkontakt vermeidend, immer mit irgendetwas Anderem beschäftigt oder tief schlafend in fremden Betten.

21.
Einmal gibst Du Dich als meine Dienerin aus, erledigst den Haushalt, erwartest mich freudig nach langen Reisen und lässt mich mein Leben erzählen. Abends vor dem Fernsehprogramm bleibst Du manchmal länger als erwartet und zuckst auch nicht zurück als ich einmal meine Hand auf Deine lege, wendest aber den Blick nicht ab vom Film. Der Geist einer Dienerin, denke ich mir in diesem Moment, ist fast gestaltlos. Wie ein kühler Nebel von Trockeneis legt er sich über meinen, fährt die Ritzen entlang, taucht die Höhlen hinab, streicht die Klippen entlang. Neugierig lauscht Du, wenn ich Dir von den Reisen zu meiner Göttin erzähle, wie sie denn aussehe und in welchen Stimmungen sie mir denn am ehesten erscheine, bringst mir dann unaufgefordert ein weiteres Glas Wein um meine Erzählung zu verlängern und streichst Dir dabei nachdenklich den Rock glatt. Ich weiß nicht wohin Du in Deinen freien Zeiten gehst, sehe Dich nur manchmal hüpfend und singend das Haus verlassen, Dein Zimmer aufgeräumt hinterlassend, als hätte nie jemand darin gewohnt. Später höre ich dann nachts den Schlüssel im Schloss, dann Deine fast unhörbaren Schritte die Treppe hinauf (trägst Du Deine Schuhe in den Händen?), dann die gedämpften Duschgeräusche im Badezimmer und dann Deinen zur Ruhe kommenden Geist vor dem Einschlafen. Er macht fast keine Geräusche und wirft keine Schatten. Selbst im Schlaf, stelle ich mir vor, lächelst Du und leitest meine fiebrigen Gedanken tief hinunter in einen kühlen unterirdischen See. Umso größer mein Erschrecken als ich Dich einmal in der Nacht besuchen will und Dich beim Blick durch das Schlüsselloch in Deinem Zimmer vor einem Funkgerät sitzen sehe, ein Gerät wie es Spione besitzen um zu einem vereinbarten mitternächtlichem Zeitpunkt geheime verschlüsselte Botschaften an den Feind zu senden.

22.

Wovon wohl eine Doppelagentin träumt? Wenn Du jemals davon berichten würdest, vielleicht auf der Coach eines Psychoanalytikers oder nur für Dich selbst, auf den Seiten eines geheimen Notizblocks in Deinem Safe oder weil Du Dich schließlich, unter Drogen gesetzt, der Folter ergibst. Deine Träume, so stelle ich mir vor, wären der einzige Ort in denen Du Dich auf die Suche machst nach Deiner wahren Identität. Ohne Deine Verkleidungen und Phantomas-Gummimasken stelle ich mir Dich nackt vor in Deinen Träumen, nur mit einer Handtasche, in der Du vielleicht verzweifelt nach einem Pass suchst oder einem passenden Lebenslauf. Stattdessen findest Du nur dein Handy mit gelöschtem Adressbuch, eine Cremedose mit versteckten Giftpillen und einer Streichholzschachtel mit der Adresse eines Clubs, an den Du Dich nur noch vage erinnern kannst. Wirst Du jetzt aber von einem leisen Geräusch im Zimmer erweckt, dann werden diese Bilder im Bruchteil einer Sekunde zerplatzen: blitzschnell richtest Du Dich auf, greifst zum Revolver auf Deinem Nachttisch und lässt die Mündung langsam und ohne das geringste Zittern halbkreisförmig durch das Zimmer wandern. Nur das Klappern der Brieftaube auf dem Fensterbrett hat Dich geweckt und kein Eindringling. Du entnimmst ihr den Zettel aus dem Röhrchen am Fuß, liest ihn eindringlich bevor Du ihn mit der Glut der ersten Zigarette am Morgen verbrennst und Dich mit Deinem sechszylindrigen Motorrad auf den Weg machst zu mir. So oft und in so vielen Verkleidungen bist Du mir schon in den Weg getreten: Als Schleiertänzerin in einem Strip Lokal, als Schutzgöttin, Tankwärterin, schwarzbebrillt am Nachbartisch, Pilotin auf einem Urlaubsflug, Selbstmörderin, Zigarettenverkäuferin – aber heute werde ich Dich fragen wer Du wirklich bist und welches Geheimnis Du bei mir zu finden hoffst.


23.
Im Internet bist Du eine Magierin und verzauberst den Raum um mich in einen Dschungel mit Affenschreien und Flügelschlagen. Deine muskulöse braune Schulter ist tätowiert mit Lilien und roten Schlangen, Du riechst nach Tieren und Erde. Als Priesterin schläfst Du mit mir auf einem Altar unter dem Getrommel Deines Eingeborenenvolkes, berauscht von der Wahrheitsdroge Ahuasca. Während ich mich mit Dir vereine spüre ich Deine innere Hand an meiner inneren Wunde, die unaufhörlich seit Jahren blutet, infiziert von angstvollen Kindheitsnächten und immer wieder aufgerissen von sich entfernenden Körpern. Am Gipfel der Lust sprichst Du Deine Beschwörungsformel unter der Deine magischen Worte wieder zerrinnen zu den Buchstaben auf meinem laptop und einem blinkenden Cursor, der das einsame „Jetzt“ markiert.

24.
Und einmal bist Du eine Prinzessin in der Ferne, von Deinem Vater einem Helden versprochen. Während sich die Freier schon sammeln, in Rüstungen auf ihren geschmückten Pferden sitzen, bist Du noch im Nachthemd, tief versunken in ein Video-Spiel auf Deinem laptop, nur leicht abgelenkt von den Fanfaren, die durch das offene Fenster dringen. Und selbst als die ersten Drachen fallen und das Getrommel die nächsten Stationen im Freier-Wettbewerb einleiten, willst Du noch nicht gestört werden bei Deinen Teeny-Spielen. Deine Seele ist immer noch eine rosa Seifenblase, in der sich die Welt nur in undeutlichen Schlieren spiegelt. Du weißt: Es ist ein Tag wie jeder andere und dass auch dieses Mal keiner der Freier alle Aufgaben bewältigen wird. Wie jedes Jahr werden die Leichen dann am Abend von einem Bulldozer in Massengräber geschüttet und so wird es weitergehen bis zu dem Jahr in dem ich mich mit einer Smith & Wesson in Eure Burg schleiche, den Vater beim einsamen Abendmahl betäube und mit vorgehaltener Waffe Dein Zimmer betrete.
Aber Du bist längst gewarnt von Deinen Orakeln. Zuverlässig haben sie den Tag meiner Ankunft geweissagt, ja sogar die Uhrzeit und das Kaliber meiner Waffe. Fast gelangweilt sitzt Du auf im Schneidersitz auf dem Bett, lackierst Dir die Fingernägel, blickst kurz auf und gibst dann Deinen bewaffneten Engelswächterinnen mit dem Kinn ein Zeichen mich in Ketten zu legen. In schwarzen Anzügen stehen diese androgynen Wesen rechts und links von Dir, tragen ihre Revolver unter den Flügeln. Mit ihren überscharfen Sinnen witterten sie mich bereits in kilometerweiter Entfernung durch ihre Engelsnüstern. Und gerade in dem Moment in dem ich noch näher rücke werde ich von ihnen auf den Boden gezwungen, den Arm schmerzhaft im Polizeigriff auf den Rücken gebogen, den Mund mit Engelshand verschlossen. Noch aus den Augenwinkeln sehe ich wie Du Deinen Blick wieder den Nägeln zuwendest, dann nur noch eine große Schwärze aus der ich erst wieder in Deinem Verlies erwache. Erst nach vielen Monaten, in denen die Sommerwolken an meinen vergitterten Fenstern vorbeizogen und auch die ersten Herbststürme Blätter und Kiesel in meinen Keller bliessen erscheinst Du mir noch einmal mit Deinen Kampfengeln. Wie bei unserer ersten Begegnung blickst Du stumm und scheinbar teilnahmslos auf mich, mit einem tiefen Einverständnis in das Schicksal meiner Gefangennahme, so als müsste alles eben so sein wie es ist, so als wolltest Du sagen, dass Du keinen freien Willen besäßest sondern selbst ein Teil des Schicksals seist, diesem unabänderlichen Prinzip gegen das keine Sehnsucht verstoßen dürfte.

25.
Einmal bist Du die Hauptdarstellerin in einem Pornofilm. Wir fühlen die Kameras auf unseren Körpern, hören die Regieanweisungen hinter dem gleissenden Licht der Scheinwerfer und doch steuert alles zu auf den einen brutalen Moment der Selbstvergessenheit. Du hast gelernt mit Deinem Körper zu verschmelzen und danach wieder Deine eigene Form zu finden. Kannst Dich auflösen in eine Hand und Lippen und Stimme und Augen und Ekel, die langsam wieder zum Zentrum ihrer wiedervereinigten Gestalt werden. Ganz kurz nur warst Du der erlösende Wind am Eingang zur Bewusstlosigkeit und dann werden die Stimmen im Off schon wieder lauter, die Scheinwerfer gelöscht und die laptops zu geklappt. Ich bin noch umfangen von der Erlösung und dem Wunderbaren während Du schon auf Zehenspitzen eilig ins Bad trippelst und ich staune über die fehlende Pause in Deinen Bewegungen, als wenn alles einem routiniertem, tausendfach ausgeführtem Ablauf folgte: Das anfängliche Hereinkommen und die unsichere Begrüßung, das Entkleiden, das Anstellen der Heizstrahler, die Nähe und Ferne, das Badezimmer und der Abschied mit einem Handzeichen, das Geräusch Deiner hohen Absätze im Treppenhaus und dann hinaus. Es sind die Bewegungen eines mechanischen Gehirns, präzise und täuschend lebensecht, jedes nur denkbare Gefühl simulierend.

26.
Einmal bist du eine Touristin auf einem Schiff und blickst schläfrig auf die Wellen des Amazonas, Dein Gesicht im Schatten eines eleganten weißen Damen-Hutes. Mit der Kamera zoome ich auf Deine kühlen blauen Augen und dann wieder auf die lautlosen Buschbewohner im Hintergrund. Die anderen Gäste: schlafend im Wind, tief in ihren steinernen Katakomben, noch nicht entdeckt von den marodierenden Grabräubern des Traumlandes, weit unterhalb der Schiffsoberfläche, kühl und staubig. Weiß livrierte Kellner sortieren leise das Kuchenbesteck und dennoch mischt sich Geklimper unter das träge Plätschern des Flusses.
An diesem Abend sehe ich Dich dann zum ersten Mal tanzen unter den geilen Blicken der Männer. Unser Schiff fährt tiefer und tiefer in den Dschungel, die Satellitenschüsseln empfangen keine Signale mehr, aus den Wäldern dringen die Schreie unbekannter Vögel (oder sind es die Eingeborenen), während uns der Kellner gekühlte europäische Weine serviert. ¬¬¬¬Seltsam, wie mehr und mehr Deiner linkischen oder auch dreisten Verehrer von geheimnisvollen Dschungelkrankheiten hinweggerafft werden. Immer häufiger bleibt ein Frühstücksgedeck am Morgen unbenutzt und die Frühstücksbutter schmilzt unter der tropischen Sonne. Du aber blickst träge auf Deine von Sonnenöl glänzenden Beine, berührst im Pool scheinbar unbeabsichtigt mein Geschlecht und ziehst dann weiter Deine Bahnen während ich Deine Augen hinter der Sonnenbrille nicht sehen kann. Nachts betrete ich leise Deine Kajüte auf der anderen Seite des Ganges. Du hast sie unverschlossen gelassen und ich ahne nicht, dass im Dunkeln bereits eine Spritze in die erbrochene Glas-Ampulle des tödlichen Giftes taucht.

27.
Es ist schwer zu beurteilen ob ein Kontakt möglich ist oder ob die Kontaktplätze gerade alle besetzt sind. Eine erste Näherung ergibt sich aus der Analyse der Lichtverhältnisse an den gegenüberliegenden Häuserfassaden. Fehlende Schatten sind ein ungünstiges Zeichen, plötzliche Wolkenverdüsterungen positiv, etwa wenn ein herannahendes Gewitter mit der Sonne spielt. Geräusche können von einer plötzlichen Veränderung der Situation künden. Nicht das berechenbare Rufen und Antworten der Vögel oder das gleichmäßig Summen der Autos hinter den Schallschutzfenstern. Das ist der Stillstand der Zeit, das Vakuum des Nachmittags, das stillstehende Herz des Tages. Es gibt dann keinen Ausweg außer dem Schlaf, der die Zeit bekanntlich auf Null stellt und die freiwerdenden Funkfrequenzen aufs Neue verlost.
In den heißesten Monaten gewinnt man am leichtesten eine freie Kontaktmöglichkeit, am ehesten gegen Morgen, bevor noch die Straßen von den Sprühwagen vom Staub befreit worden sind und die Hitze noch langsam anschwillt. Viele sind dann noch betäubt vom Sommerschlaf, haben noch keine Kontaktverstärker-Pillen genommen und nutzen so kaum ihre zugeteilten Bandbreiten. Nachts hingegen kann es vorkommen, dass Du versehentlich mit einer professionellen Telefonhure verbunden wirst und scheinbar mühelos Deine Grenzen überwindest, von Deinen Fantasien im Kerker erzählst, von schlaflosen Nächten als Kind, von den Außenbezirken Deiner Wunde im Zentrum. Und dann plötzlich erkennst, dass auch sie schwer verletzt ist, nur unzureichend überschminkt mit einem Lächeln in der Stimme. Du erkennst es an den Nebengeräuschen im Hintergrund, die sie aus dem Götterhimmel reißen und zu einer geschiedenen Frau in einem schäbigen Zimmer in Berlin verwandeln: Ein Hund bellt im Off, eine Geschirrspülmaschine springt an, Autogeräusche vor dem Fenster, ein Klingeln im Nachbarappartement und ab und zu tippt sie in ihren laptop eine Nachricht für die anderen Männer in der Warteschleife.
Nachts, das ist das Problem, liegen die Sender ganz dicht beieinander, man wird verbunden mit wem auch immer, mit Huren und anderen Verletzten, mit Betrügern und Dieben, mit Amazonen und Scheingöttinnen. Nur durch Zufall höre ich im Rauschen zwischen den Sendern: Dich. Zwischen uns die herbstliche nächtliche Landschaft mit den schwarzgrünen Wäldern. Unsere Worte wickeln sich um die Eichen und Linden, kriechen durch Mauselöcher und wieder heraus, werden ein- und ausgeatmet von den Tieren im Wald, von den Blättern, kondensieren und kriechen als Nebel über die eiskalte Wiese. Ich sehe Dich aus großem Abstand, undeutlich wie Deine nebelig-tierhaft-schneckendurchzogenen Worte. Die Übersetzungsmaschinen im Unterholz sind rostig und stumm geworden, die Glasfaserkabel unter der Erde enden blind im Grundwasser. Ein flinker Botenläufer bringt dann unsere Sätze zueinander, er eilt durchs Moos, durch meterhohes Gras, springt mutig über Selbstschussanlagen im Todesstreifen und kommt schließlich zu einer scheinbar leerstehenden Hütte auf einer Lichtung. Von innen erleuchtet lädt sie zum Rasten ein – doch trinkt man den aufgetischten Wein an dem gastlich gedeckten Tisch, so verfällt man in einen dschungelhaften Schlaf währenddessen heimlich die Papierrollen und CDs mit den Botschaften vertauscht oder überschrieben werden. Als der ahnungslose Bote schließlich erwacht übergibt er, noch leicht taumelnd die verstellte Nachricht an Deinen Staffelläufer und ahnt nicht im entferntesten, dass jetzt aus einem Ja ein Nein geworden ist, aus einer vorsichtigen Berührung ein plumper Schlag, aus einem angedeuteten Geheimnis eine offensichtliche Obszönität.
Kann ich denn Deinen Worten trauen? Nur eine winzige Drehung des Drehknopfs an meinem Funkgerät entfernt höre ich immer noch die Stimme der Telefonhure und manchmal auch den Polizeifunk oder die Stimmen der Toten im Jenseits. Die Hure spricht jetzt über sich, ihre Eltern und die Schule, den Ballettuntericht, die Tatorte in ihrer Kindheit und die nicht heilenden Wunden. Über sie kann sie jetzt Stimmungen hören und spüren, ihre Wunden sind Empfänger geworden für meine Wunden und deshalb rufe ich sie auch am nächsten Morgen wieder an, jetzt mit glasklarer Empfangsqualität. Wie hast Du geschlafen Leandrah oder wie immer Du wirklich heißt? - Nun ja wie man so schläft mit dem Telefon im Bett das klingelt wenn ein Anrufer dich verlangt als Leandrah... als Malon gabe es eine Störung und als Sonja so einige ...

28.
Die Helden kämpfen schon seit Jahrtausenden, fahren mit ihren pick-ups an die Front und twittern dann ihre Erfolge ins Netz. Selbst in den Nächten zwischen den Schlachten schonen sie sich nicht, sitzen stattdessen zechend und kiffend mit ihrem Heer an den Feuern und scherzen miteinander in blutverschmierten Rüstungen. Du lenkst diese Kämpfe vom Himmel herab, blickst geil durch die Wolken auf die glänzenden Muskeln des Tages-Siegers, entführst ihn Dir manchmal in Dein Bett und weckst ihn am Morgen wieder zur Schlacht. Dann wirft er sich mit doppelter Energie und göttergestärktem Mut auf den Gegner, schlägt Leichenschneisen in dessen Formationen. Wenn es Dir gefällt teilst Du weiter das Bett mit ihm – oder Du folgst einer Laune und erscheinst am Abend des nächsten Kampftages dem Gegner als Muse in seinem Zelt. So hältst Du die Schlacht endlos am Laufen wie ein Videospiel in dem Du nicht nur Deine Gunst sondern auch Deine Gestalt nach Belieben von Tag zu Tag änderst, Gesten-gesteuert tötest aber auch Sieger kürst alleine mit der Bewegung Deiner Finger auf dem göttlichen joy stick.
Zu mir schickst Du nur Deine Schwester, die Leere. Ganz gleich wohin ich mich bewege auf dem Planeten, ich treffe nur Luftwesen durch die man hindurchgreifen kann und dann das eigene Kissen streichelt. Und auch bei meinen Feldzügen im Norden des Reichs stellt sich mir kein Gegner in den Weg. Stattdessen öffnet sich nur eine endlose Weite mit verlassenen Dörfern, Schnee und Hügeln unter einem klaren Winterhimmel. Fast sehnsüchtig erwarteten meine Soldaten bei ihrem endlosen Marsch einen Schuss oder nur ein menschliches Geräusch in der Landschaft – aber immer glitzert nur der Schnee, gleichgültig, absichtslos und kalt wie ihre Maschinengewehre und Amphetamin-geschärften Angriffsgedanken, die in der endlosen Weite kein Ziel finden. Es gibt kein Gegenüber, nichts was sich fixieren oder berühren ließe und so weicht ihre glasklare Zieloptik mehr und mehr einem verschwommenen Blick, der sich ziellos in den Wolken verliert. Statt eines Gegners begegne ich nur wieder der Müdigkeit die sich langsam wie eine Senfgaswolke auf die Landschaft senkt. Manchmal auch mir selbst, wenn ich nach einem langen Marsch am Abend in den zerbrochenen Spiegel eines verlassenen Hotelzimmers blicke. Und manchmal kommt es dann auch zu einem ganz kurzen Kontakt:
Als wenn mich tausende gütiger Augen aus dem Spiegel heraus anblicken würden, jede Stelle des nackten Körpers betrachten, dann mit ihrem Blickstrahl durch die Pupillen ins Innere gelangen und innen an der Haut entlangstreichen. Es ist ein ganz kurzer Moment, er dauert vielleicht 30 Millisekunden. Es fühlt sich an als ob ein Spiel begonnen hätte, das alles ändert und doch ist es nur ein Kitzel in der Magengrube, wie wenn man über eine Bodenkuppe fährt und kurz erschrickt weil der Wagen abheben könnte und zu den Sternen fliegen, aber schon ist da wieder die Ruhe der sicheren, vertrauten Spur. Oder wie ein Sprung ins Leere, aufgefangen durch ein seidenes Sprungtuch. Oder wie das Umkreisen zweier Augenpaare. Erst in Superzeitlupe werden Szenen in dem Wirbel erkennbar, abwechselnd von mir und Dir, nur durch die Geschwindigkeit der Drehbewegung erscheinen sie übereinander gelagert, so als bewegten wir uns in der gleichen Welt und einer könnte den anderen sehen. Erst in der Sekunde des Einschlafens wird die Zeit des Kontakts gedehnt und die Kontaktflächen verbreitert. Im Moment des Einschlafens erscheine ich auch Dir als Held, vielleicht als Gladiator in einer Arena und Du auf der Tribüne an der Seite des Herrschers, springst auf und der erste Traum beginnt.


29.
Unverantwortlich wie ungesichert die Übergänge an der grünen Grenze sind: Mitten im Wald, selten auf Lichtungen und niemand bemerkt die unvermittelt endenden Fußspuren im Mossboden. Wenn man hinübertritt taucht man unvermittelt und ohne Vorwarnung in Deine Welt ein, immer in einen anderen Raum, manchmal auch in einen Park oder an einen kleinen See, den Du mit Deinem Gefolge umkreist. Es scheint so als wärst auch Du nicht vorbereitet für Deine Besucher, wirkst oft überrascht und stellst Dich dann aber so rasch auf sie ein als wäre die Überraschung nur Täuschung, als ob Du eben genau wüsstest wer und wann in Dein Reich tritt. Als wären Lichtsschranken oder Retinascanner im Dickicht des Waldes versteckt gewesen und hätten den Übertritt und die Identität des Besuchers im Voraus gemeldet. Immer wieder bin ich bezaubert von der freudigen Überraschung in Deinem Gesicht, so als wäre ich der einzige der die Grenze jemals überschritten hätte. Fast immer bist Du gerade mit irgendetwas beschäftigt, jätest Unkraut in Deinem Garten, telefonierst am Fenster stehend oder blätterst auf der Veranda in einem Buch. Dann wendest Du Dich mit eben dieser Mischung aus Überraschung und Wissen um, verwickelst mich für eine Stunde oder mehr in Deine Spiele um Dich erst nach meinem Abschied wieder in Dein konzentriertes Tun zu versenken. Bei meinem letzten Besuch hast Du mir zum ersten Mal etwas geschenkt. Ich glaube es war eine kleine tönerne Statuette mit einer ganz bestimmten Bedeutung, schön und mysteriös wie das Fundstück einer längst untergegangenen und noch sprachlosen Kultur. Aber schon in dem Moment, in dem ich noch ganz benommen war von dieser einmaligen Geste, vor allem aber von den Auswirkungen die dieses Ritual für unser ganzes künftiges Leben haben würde, wusste ich auch schon, dass ich die Figur nach meiner Rückkehr nicht mehr in meiner Tasche finden werde und dass auch die Geste selbst dann für mich nicht mehr entschlüsselbar sein würde.


30.

Im Nachtzug bin ich bin auf dem Weg zu Dir nach Süden. Du sitzt dort in Deiner kleinen Villa am Meer, regierst ein südliches Volk mit strenger Sanftheit und kontrollierst ihre Gedanken mit erotischen Träumen. Mit Deinen Drohnen führst Du Kriege in fernen Ländern und lenkst Tarnkappenbomber mit Deinem Joystick vernichtend über Deine Gegner. Der Geruch Deiner Nacht ist warm und blau, die der meinen metallisch und kalt. Das Schlafabteil ist hell erleuchtet, das gleichmäßig schwarze Fenster verrät nichts von der Bewegung des Zuges. Eine muskellose schwarze Bewegung auf die Kälte des Passes zu, der unsere Länder gebirgig trennt. Auch die Grenze dort schwarz und zwischen den Schlagbäumen, auf dem Scheitel der Berge: das Niemandsland. Es existiert dort seit undenklichen Zeiten und niemand weiß wer es wirklich bewohnt. Keiner der Zuggäste hat das Grenzvolk je gesehen. Tief narkotisiert vom Betäubungsgas der Grenzer schlafen sie unweckbar in ihren Abteilen, bemerken auch nichts vom Langsamerwerden des Zuges, sehen nichts von den monumentalen Kathedralen des Niemandsvolkes und hören auch nichts von den Schritten der unsichtbaren Bewohner wenn sie lautlos den Zug entern und sich mit flinken Fingern Zugang zu ihrem Abteil verschaffen. In Windeseile löschen sie mit ihren Magnetspulen die Erinnerungen der Reisenden und vertauschen sie mit ihren eigenen, so dass letztlich sie es sind, die gleichsam in fremden Körper die Reise fortsetzen. Seit Jahrhunderten bereist das Niemandsvolk auf diese Weise parasitär den Planeten und erst bei der Rückkehr entschlüpfen sie wieder lautlos den fremden Gehirnen. Als Fremder erwache ich am nächsten Morgen aus einem bodenlosen Schlaf, die Strecke immer noch leicht abschüssig am südlichen Ende der Gebirgskette, durch das leicht geöffnete Fenster aber schon der ferne Geruch von Sonnenöl und salzigen Luftmatrazen. Schon Stunden vor meiner Ankunft erhältst Du gestochen scharfe Bilder von meinem verschlafenen Gesicht über Deine Aufklärungssatelliten – und erkennst nicht mein Ich dahinter, tief verborgen und beinahe bewegungslos hinter dem Eindringling.

31.

Ein anderes Mal komme ich über die Wüste zu Dir auf Deinen Brombeerhügel. Bin monatelang einer Karawane gefolgt, habe in Oasen getrunken und geschlafen und Wahrsagerinnen getroffen. Aus den Eingeweiden von toten Ziegen prophezeiten sie mir die Zukunft der nächsten Stunden und Tage und deshalb verwunderte es mich nicht als ich Dich schon Weitem mit meinem Fernglas auf Deiner Veranda mit einem Mann sitzen sehe. Ich nenne ihn Jean, weil er aussieht wie ein Künstler, ein vitaler Südländer in hellblauer Latzhose und weinrotem Hemd. Auf dem Tisch stehen ausgelöffelte Danone Joghurts. Zu dritt gehen wir spazieren, in einer Reihe auf dem schmalen Pfad. Ab und zu stelzen wir voneinander weg, um eine Blume zu pflücken. Die rechte ist die Pflückhand, die linke ist nass von den abgeknickten Stengelenden. Anschließend sitzen wir wieder auf der Veranda beim Tee, werfen Zuckerstückchen in die geöffnete Rundung der Tassen und unsere von der hellen Tagessonne geblendeten Augen, sehen bunte Flecken (wie von Wachsmalkreiden) wild im Garten und in unseren Gesichtern herumspringen. Als Teetrinker erleben wir den Einbruch der Nacht in den Tag. Den noch warmen Tee nehmen wir mit in den Mägen aber während ihr euch zu zwei Mutanten des Tees verwandelt habt bleibt mein Schlaf aus. Ich erhebe mich, der Horizont ist leicht orange (wie von einem fernen Bombardement) und rieche an Deinen schlafenden Achselhöhlen, unterhalb des Schulterauswurfs. Ihr beide schlaft kirschkerntief mit entspannten Augen. Wohin sollte man fliehen vor der Nacht? Oder vor der Traurigkeit, vor Kriegen oder grausamen Sonnenuntergängen? Erinnerst Du dich an den letzten gemeinsamen Sonnenuntergang? Als wir feiertags schlaftrunken am Starnbergersee hockten. Wir liefen die laubüberfluteten Hügel hinauf und zogen grüne Rillenpfade durch die braune Blätterschicht. Trennten uns dann und trafen uns abends wieder am helligkeitsberstenden See, vögeldurchtaucht. Ich schmiss einen Stein nach der geilen Sonne, dieser irrsinnigen Rötungsmaschine. Deine Nase war wohl rot und deine Wangen laubkühl. Auf unsere Bank setzte sich eine ältere Dame, die zu sich selbst sprach und Nusshörnchen aß. Und ohne dein Einverständnis rannten wir zum rotglühenden Auto, als ob schon die ersten roten Strahlen tödlich wären. Wer führt diesen Entwirklichungskrieg? Fahrend überholte uns die grausame rote Farbe am Himmel und versperrte uns feuerhaft den Fluchtweg. Aber selbst Du, meine einzige Vertraute, sahst nichts und schminktest nur deine Lippen im Taschenspiegel.

Aus tausenden Poren schwitzend gehe ich durch das leere Haus, nur ein Zimmer ist angefüllt mit Schlafkörpern. Jean hat einen breiten Kopf mit harten Kinnmuskeln, scheußlich robust liegt er unter seinem weißen Leintuch. Im Hause summt es wie aus tausend Lautsprechern und es ticken die Wecker. Ein Blick aus dem Fenster: Violett flimmernde Brombeerhaine beiderseits der asphaltnormalen Straße. Im Wald ein Geräusch wie von zerknitterndem Karton. Das Paar: nachtschwarze Glieder vermischt mit Bettücherquellungen. Die Balkontür ist geöffnet. Aus dem noch dunklen Park schreien die Vögel in den Raum, der sich nahtlos angliedert an das große, tönende Dunkel. Auf dem braunen Plastiktisch liegen Brot und Krümel. Das Messer blitzt morgendlich. In den Nervensträngen laufen auf goldenen Bahnen die Aktionspotentiale, hinter den Augen das Blau von Araltankstellen und schließlich doch noch das Eintauchen in den Schlaf.

Und das Erwachen vom Geklimper eurer Frühstücksbestecke auf gleißenden Porzellantellern. Vor dem Hintergrund des Fensters schneiden eure Köpfe zwei haarige Löcher aus dem dunkelblauen Morgenhimmel. Teeschlürfend seht ihr mir beim Aufstehen zu und wie ich mich langsam wieder eurer Erscheinungsform angleiche. Ich werde wieder zu einem gefährdeten Kriegsteilnehmer nach dem Waffenstillstand des Schlafes. Guten Morgen, Du.


32.
Du bist nur zum Schein eine Flugkapitänin und fliegst Deinen Airbus ohne Lizenz. Deine Passagiere fühlen sich sicher und Dein erster Offizier schaut Dich bewundernd von der Seite an: Wie Du die Maschine nach oben ziehst mit einem Hebel, der Deine Zartheit millionenfach verstärkt. Du aber bist nicht wirklich im Cockpit und beachtest nicht die Instrumente sondern blickst zurück auf Deinen Geliebten zuhause. Und siehst zur gleichen Zeit den Schmerz Deines Mannes, sein nächtliches Weinen und wie er Dich anfleht doch zu bleiben. Manchmal bin ich dieser Mann und manchmal der Geliebte. Meist strebst Du weg von mir und sicherst Deine mails mit dem Namen des Geliebten. Manchmal sehe ich Dich aber auch mit glänzenden Augen zu später Stunde an meiner Tür, immer lachend und geschminkt, nach einem Flug und noch immer in Deinem schwarzen Kostüm mit Deinem Rollkoffer – während Dich Dein Mann noch auf einem anderen Kontinent wähnt. Nie aber sehe ich Dich wenn Du an einem fernen Ort alleine in ein Hotelzimmer trittst und Deine geschwollenen Knöchel massierst. Du holst Dir einen Whiskey aus der Hotelbar und rauchst geistesabwesend eine Zigarette in die tropische Nacht. Bist nämlich gar keine Göttin und kannst den Tod auch nicht besiegen. Könnte ich Dich sehen wenn Du jetzt eine Schlaftablette nimmst um beim Einschlafen nicht zu weinen, ich glaube meine Sehnsucht als Dein Geliebter und mein Flehen als Dein Mann würden sich in Mitleid verwandeln. Mit einem Handschlag würden wir einen Pakt schließen und vorübergehend zu einer einzigen Person verschmelzen um Dich zurück zu holen aus Deiner fremden Zeitzone. Weißt Du eigentlich, dass das Paradies nur auf Fotos und kurzen Videosequenzen existiert?

33.
Und immer wieder steuere ich auf die Schlüsselszene meines Lebens zu. Es liegt dann ein emsiges Summen in der Luft, ein Knistern als würden im Geheimen schon die passenden Kulissen geschoben und die Bühne hinter einem Vorhang dekoriert. Als würde sich heimlich eine Kraft sammeln und am Himmel die Wolken unmerklich bewegen. Dem entscheidenden Ereignis geht aber eine Periode völliger Windstille voraus, eine Zeit in der die Schicksalsgöttin noch unerkannt als Schläferin ihrem bürgerlichen Beruf nachgeht und auf ein Startsignal wartet. Manchmal tanzt Sie schon ein wenig, lautlos, zu der Musik aus ihrem ipod, übt Beschwörungsformeln in einem tungusischen Dialekt und mit jedem Schlag ihrer Trommel bewegen sich die Bilder in meiner Vorstellung weiter, reist die Seele von Moment zu Moment, immer schneller mit dem sich steigernden Rhythmus, immer eiliger auf den eigentlichen Moment zu.
Immer wieder stellt sich aber genau dann ein Unbekannter drohend in den Weg, wirft sein Schnappmesser von einer Hand in die andere und pariert meine Versuche ihn zu umlaufen jeweils mit einem Ausfallschritt. Bis es mit es mir dann erst nach Stunden gelingt ihm durch die Beine zu entwischen, ich dann aber auch noch einen Bus verpasse und schließlich als letzter in einer Goldgräberstadt eintreffe, den Boden aber schon gefroren vom eingebrochenen Winter vorfinde. Die anderen haben ihre claims längst abgesteckt und geplündert, sitzen jetzt im warmen Saloon und tauschen ihre nuggets in Glückspillen und Seegrundstücke. Dort sehe ich Dich auch singen in einem blauen Nebel aus Zigarettenrauch. Zwischen Deine Brüste lässt Du Dir Dollarscheine stecken und streichelst den Spendern dabei zärtlich über die Wangen. Und genau in dem Moment in dem ich mich in Deine Richtung zur Tanzfläche aufmache, wählst Du Dir einen von Ihnen für die Nacht und führst ihn mit Deinen Küssen zu den Goldadern Deines unerschöpflichen Sommers.
Oder als ich einmal in der Jugend zu einem Fest aufbreche wo ich mit anderen vor einem Feuer sitze hinter dessen Funken ich Dein Gesicht sehe. Deine Geste verstehe ich so, dass ich Dir folgen solle aber als ich Dich alleine und weit abseits der Anderen am See sitzend antreffe habe ich nicht den Mut Dich anzusprechen, ahne nur Deinen Körper im Dunkeln und vertraue auf die unzähligen weiteren Sprech-Gelegenheiten, die sich in einem unendlichen Leben noch bieten werden. Und so lasse ich auch diese Schlüsselszene ungenutzt vorüberziehen bis ich mich nach einem einzigen weiteren Flügelschlag der Nacht an meinem Fest zu meinem 70-jährigen Geburtstag wiederfinde und Du, immer noch in Deiner ursprünglichen Gestalt und mit Deinem ursprünglichen Parfum, den Raum betrittst, jetzt aber in Deiner eigenen Zeitzone und durch keinen relativistischen Zeittrick mehr erreichbar.
Nicht mehr lange und ich finde mich in meinem Sterbebett wieder und höre die Trommeln des Schicksals langsam zur Ruhe kommen. Die Erinnerungen werden nicht ausreichen für die Absolution aber vielleicht gelingt es mir noch ein einziges Mal ein Signal durch die Poren meiner Haut abzusetzen, einen Hilferuf, der vielleicht von einem Waldgeist erhört wird. Dessen Zauberspruch erreichte mich dann beinahe mit Lichtgeschwindigkeit, aber dennoch nicht mehr rechtzeitig bevor die Haut wieder zu einer undurchdringlichen steinernen Mauer wird, die nicht einmal mehr von magischen Kugeln zerschlagen zu werden vermochte. Jetzt glaube ich langsam erkennen zu können wie es ist zu sterben und bin erstaunt, weil ich es mir so anders vorgestellt hatte.


34.
Kurz vor der Erlösung, drehst Du mich mit verbundenen Augen um meine Achse, wie bei einem Kinderspiel. Bei jeder Umdrehung, sagst Du, solle ich mir einen Abschied vorstellen von Dir. Ein letztes Frühstück am Ende einer Sommerreise beispielsweise, in einer Stadt in der sich unsere Wege teilen. Die letzten Worte in der kleinen Bäckerei mit eiligen Morgenmenschen Rücken an Rücken an steinernen Bistro-Tischen. Du wirst gleich zurückfahren und in Deiner Stadt heiraten, Kinder bekommen, dich wieder trennen und immer weiterziehen, eine Affäre mit einem verheiraten Mann haben, einen kleinen Schlaganfall vielleicht und erst wenn Du Dich im Alter daran machst all Deine Spuren aus diesem Leben zu vernichten werde ich ein kurzes Signal aus diesem frühen Sommer spüren wenn Du meine Liebesbriefe wiederentdeckst und zum letzten Mal in Deine Hände nimmst.
Oder den Abschied nach einem Liebesnachmittag in einer geborgten Mietswohnung die uns beiden fremd ist, so wie wir uns eigentlich fremd sind und ich Dich deshalb frage ob ich ins Badezimmer kommen dürfte während Du Dich noch duscht und Du aber schon in Gedanken versunken bist an Dein Zuhause und deshalb erst mit Verzögerung antwortest.
Oder als Du nicht davon abzubringen warst mit einem Anderen auf Weltreise zu gehen und ich euch zunächst noch folgte über den Atlantik und dann entlang der Küsten Südamerikas, quer durch den brasilianischen Dschungel, in wochenlangen Schiffspassagen über den Pazifik um dann am Südpol endgültige Eure Spur zu verlieren in einem arktischen Sturm. Als ich dann erwachte im Zelt einer inuit-Frau, während ich Euch schon im südlichen Chile in einem Hotelpool wähnte.
Und so drehst Du mich immer weiter als blinder Kreisel und mit jeder Drehung nehme ich weiter Abschied bis ich ganz am Ende noch meinen Blackberry über die Klippen ins Meer werfe, weit hinaus, damit er nicht auf den Felsen zerschellt sondern unsere Gespräche mit hinunterzieht in einem Schwarm aus Luftblasen auf den Meeresgrund wo auch die letzten gesprochenen Worte auf seiner Platine vom Salzwasser über die Jahre zerfressen werden.

35.
Und als ich die Binde von meinen Augen nehme bist auch Du verschwunden und stattdessen ist da ein Krankenzimmer und nur eine Infusionsnadel in meiner Ellenbeuge erinnert an die stattgefundene Transformation. Ich werde nach meinem Namen befragt, den ich prompt erinnere, nicht aber das Jahr und die Jahreszeit (vielleicht August, meiner Kleidung nach zu schließen?). In der Folge wechseln die Zimmer um mich herum und die Apparate an denen ich angeschlossen bin. Wie in einem Musik-Clip tauchen immer wieder neugierige Gesichter vor mir auf, stellen Fragen und sind wieder verschwunden, zeigen mir scans von meinem Gehirn auf denen ich weiße Flecken an den entscheidenden Punkten meines Lebens sehe, die Erinnerungen dahinter für immer gelöscht. Die Welt ohne Dich ist ein weißes Sanatorium mit großen Kissen und einem Geruch von Desinfektionsmitteln. Durch das Fenster der Aufnahmestation sehe ich den Himmel hinter den Bäumen im Park, nur manchmal schwappen von Draußen fröhliche Stimmen und die gedämpften Düsengeräusche von fernen Flugzeugen herüber. Hier drinnen aber leitet das Kriegsrecht sicher in eine andere Zeit hinüber.

36.
Unmittelbar nach der Erlösung, sagtest Du voraus, kann es jederzeit zu solchen transienten Amnesien kommen in denen mich die Erinnerungslosigkeit überfällt und ich wie ein Neugeborenes verständnislos in scheinbar fremde Gesichter schaue. Und es könne auch vorkommen, dass ich noch einige Nächte unruhig schlafen und von Renaissance-Gärten träumen werde in denen mir meine Ängste als versteinerte Statuen mit doppelschwänzigen Fischleibern erschienen. In diesen Gärten entdeckte ich auch die mauerngerahmten Kultplätze meiner Kindheit auf denen dann die früheren Verhexungen und Verzauberungen noch einmal, jetzt aber in neuer Reihenfolge und jetzt auch vor einem Publikum erscheinen, das mich mit seinen Oh´s und Ach´s begleiten würde.
Nach der Erlösung könnte es sein, dass ich ein blindes Mädchen an meiner Seite finden würde. Mit ihm dürfte ich sprechen aber meine Worte würden durch sie hindurchfallen wie durch ein Luftwesen das seinen Kern noch nicht gefunden hat. In seinem Inneren ist noch Dämmerung, nur fahl fällt das Licht durch seine milchige Linse wie durch einen weißen Plastikvorhang. Nach einem Password gefragt sollte ich nicht antworten, es sei eine Falle und würde abgehört werden. Vielmehr sollte ich anfangen zu erzählen wer ich bin und würde dann zunächst keine Regung auf ihrem Gesicht sehen, nur das Wiegen des Nystagmus und das Zucken der unwillkürlichen Sakkaden. Ihre Pupillen, sie hüpften und sprängen bis sie jeweils für einen Sekundenbruchteil deckungsgleich mit meinen wären und in diesem Moment erschiene Sie mir in Ihrer ganzen Schwärze, ein leeres Weltall. Immer wieder würde sie mich fragen wer ich bin und ich könnte dann die ganzen Hologramme meiner Kindheit zwischen uns erscheinen lassen und dabei ihre Hand halten. Wenn ich Geduld hätte, würde ich irgendwann ein Lächeln auf ihren Lippen beobachten, vielleicht auch eine Träne in ihren Augen oder besser noch: Ein Befremden – als Zeichen dafür, dass sie allmählich sehend wird und dass sich in ihr ein berührbarer Kern formt.
Und ich sollte nicht Autofahren für mindestens 2 Tage nach der Erlösung, weil es sein könnte, dass die Kraftfelder des Übergangs die Elektronik des Fahrzeugs stören und ich dann unvermittelt die Kontrolle verlieren würde. Selbst schwere Verletzungen seien nicht ausgeschlossen in diesen Stadien der Verwandlung in denen das Gold noch nicht vollständig gehärtet und auch das blinde Mädchen noch nicht zu jedem Zeitpunkt achtsam ist. Bis zu 6 Wochen nach der Erlösung verliere es sich noch in eigenen Tagträumen und habe den Beschützer-Radar noch nicht vollständig ausgebildet. Ich sollte also jetzt auf dem Nachhauseweg lieber den Bus benutzen, wobei es sein könnte, dass ich beim Betreten plötzlich die Gedanken der anderen Fahrgäste vernehmen könnte. Es würde sich anhören wie das Rezitieren von Sutras in einem indischen Tempel oder das Auf und Ab der Stimmen in einer Sprechmeditation. Ich aber sollte in jedem Fall die nächsten Tage schweigend verbringen, wenn möglich auch ohne Gedanken – nur so könnte die diamantene Lasur um meine Schläfe aushärten und nur so könnten sich die Nähte an meinem Herzen wieder schließen.
Grundsätzlich sollte ich mich fern halten von dem Getümmel der Menschen und von anderen Ablenkungen, weil mein Geist genügend beschäftigt wäre mit den Fetzen der Erinnerungen aus den Tagen der Transformation. Wie von einer Stalinorgel würden meine Sinne von Innen befeuert von scheinbar unzusammenhängenden Bildern, Gerüchen und Berührungen. Und wie immer in den entscheidenden Trance-Momenten meines Lebens erschiene mir die Welt in Grün getaucht.
Grün, das ist die Beleuchtung der Zeitlosigkeit aus den endlosen Nachmittagen der Kindheit oder der Ewigkeit, in die mich die Drogen einst auf einem Platz in Amsterdam tauchten. Grün ist aber auch die Farbe der verschlossenen Botschaften, von nie geöffneten Liebesbriefen oder der verschollenen Briefe an die Mutter. Nach der Erlösung, meinst Du, sei die Welt geteilt in grüne und blaue Kammern. Die grünen blieben für immer verschlossen, in den blauen aber tauchte ich zu zweit ein letztes Mal hinab in riesige Unterwasserhöhlen, nebeneinander und mit wasserdichten Taschenlampen.

imagon

Beitragvon imagon » 31.08.2012, 08:32

Guten Morgen Gerda,

Mensch bist Du schon früh auf! Und dann auch noch mit meinem sperrigen Text beschäftigt. Danke auch Dir für Dein Bemühen und die konstruktive Kritik, die in die Richtung von Nifl geht. Sollte ich jemals wieder etwas schreiben werde ich versuchen den einzelnen Bildern mehr Raum zu geben, und (auch darauf hat Nifl schon hingewiesen) den Verben (also der Handlung) mehr Priorität einzuräumen. Alles sehr hilfreich...

Liebe Grüße,

imagon

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Beitragvon Hetti » 09.10.2012, 19:45

Hallo Imagon,

deinen Text habe ich gelesen und mehr gefühlt als verstanden. An dieses Phänomen erinnere ich mich ich aus der Zeit, als ich als 17jährige einsam und unverstanden in den vier Wänden meines Kinderzimmers immer und immer wieder die Schallplatten von Leonard Cohen abspielte, die meine Tante mir borgte. Ich konnte seine Songtexte überhaupt nicht nachvollziehen, aber sie trösteten mich so sehr!

Viele Grüße
Dede

imagon

Beitragvon imagon » 10.10.2012, 11:06

Hallo Dede,

Dein Anmerkung freut mich sehr. Ich sehe sie nicht als Kritik sondern als eine treffende Beobachtung: Mir ist es früher genauso mit Leonard Cohen gegangen :-) Und was heißt schon verstehen: Die Welt, insbesondere die Innere, ist einfach nicht wirklich verstehbar und bisher weigere ich mich in meinen Geschichten auch standhaft so zu tun, als wäre sie es.

Liebe Grüße,

imagon


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