Die Unschuld

Bereich für Erzähl- und Sachprosa, also etwa Kurzgeschichten, Erzählungen, Romankapitel, Essays, Kritiken, Artikel, Glossen, Kolumnen, Satiren, Phantastisches oder Fabeln
Renée Lomris

Beitragvon Renée Lomris » 22.09.2012, 23:11

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Zuletzt geändert von Renée Lomris am 03.10.2012, 02:43, insgesamt 4-mal geändert.

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Zefira
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Beitragvon Zefira » 23.09.2012, 01:04

Liebe Renée,
die These, die Du hier aufstellst, ist außerordentlich provokant (wie Du natürlich weißt).
Ich habe nach dem Lesen dieser Geschichte sicherheitshalber den Begriff Viktimologie nachgelesen (ich kenne den Begriff aus einer Strafrechtsvorlesung vor langer Zeit, habe mich aber damals nicht näher damit befasst). Es geht dabei um Wechselbeziehungen zwischen Täter und Opfer, die dem Täter das Verbrechen ermöglichen oder erleichtern. Das gibt es natürlich. Die zitierte Geschichte wäre ein typisches Betätigungsfeld für einen Viktimologen (ich kenne aus meiner Studienzeit andere, ähnlich erstaunliche Fälle). Hier jedoch, finde ich, gehst Du etwas zu weit:

Diese Blindheit, die uns in sexuellen Fragen gelegentlich befällt, scheint mir die eigentliche Ursache, der Nährboden, auf dem Gewalttätigkeit in die Sexualität der Menschen entsteht. Denn ich kann nicht umhin, in dieser Blindheit eine Ursache zu sehen, hinter der natürlich der oder dasjenige steht, was diese Blindheit fördert oder zumindest aufbaut.


Meiner Meinung nach kann die Gewalttätigkeit nicht durch die Blindheit des Opfers entstehen. Sie mag bewirken, dass der Täter ein Opfer wählt, weil es sich in seinen Augen als besonders schutzlos oder begehrenswert darstellt, aber sie kann nicht die Ursache gewaltsamer Übergriffe sein. Wenn ich Dich falsch verstanden habe, berichtige mich bitte.

Das Bild von Courbet glaube ich identifiziert zu haben - meintest Du dieses ? Zufällig bin ich gerade vor drei Tagen über dieses Bild gestolpert, und zwar, als ich den Roman "Das Werk" von Zola durchblätterte. Wenn ich es richtig behalten habe, haben Courbet und andere Maler dieser Zeit nackte Frauen in alltäglichen Szenen darstellen wollen. Darin lag der Skandal. Eine nackte Frau mit Trauben in der Hand war in Ordnung, wenn der Maler sie als Bacchantin betitelte; dann nahm niemand Anstoß daran, sie war ja kein Mensch. Nannte er sein Bild dagegen "Winzerin", war die Empörung groß, dann galt seine Malerei als unmoralisch. Möglicherweise ist das auch ein Beispiel für die Blindheit, die Du ansprichst.

Ein paar Satzbaufehler b zw Kommafehler sind mir aufgefallen, zum Beispiel hier:

Nackte Frau, sagte ich. Da war keine nackte Frau. Sage ich, Ich bin sicher, führe meine Freundin zu dem eben verlassenen Saal und stehe vor dem nackten Modell.


Aber das ist nicht so wichtig; ich hätte vor allem gern eine Erläuterung, wie die oben genannte These gemeint ist.

Grüße von Zefira
Vor der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.
Nach der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.

(Ikkyu Sojun)

Renée Lomris

Beitragvon Renée Lomris » 23.09.2012, 01:19

Danke fÜr deine rasche Reaktion. Die Fehler mache ich morgen weg. Ich halte diese Blindheit, Oder Hemmung für ein Resultat der Erziehung. Wegschauen, wenn da was Nacktes ist ... statt wegzulaufen z.B. Jedenfalls schien mir, dass eine Nicht-Wahrnehmung immer aufschlußreich, wenn nicht gar verräterisch ist. Lg r.

Renée Lomris

Beitragvon Renée Lomris » 23.09.2012, 12:18

Liebe Zefira,

Wahrscheinlich muss ich den Text noch einmal bearbeiten. Aber nur an kleinen Ecken und Enden, im Wesentlichen ist er vorläufig so für mich stimmig:

Zur Viktimologie: Ich vermute es gibt zwei Ansätze zu dieser Theorie. Einer ist vermutlich von vorneherein disqualifiziert, denn er ist mit extrem reaktionären Theorien verbunden, deren Terminologie im dritten Reich Verwendung. Mir widerstrebt es, diese überhaupt zu beschreiben. Ich versuche einen anderen Zugang zu dem zu finden, was gefährdete Personen dazu führt, sich in Gefahr zu begeben. Mir geht es sicher nicht um die Entschuldigung oder Schuldminderung des Täters.

Mich interessierte an dieser Geschichte, dass diese "blinde Stelle" von der erwachsenen Person selbst nicht wahrgenommen wurde. Mir schien, dass sich die Umstände nacheinander so fügten, dass der Tat die Dinge leicht gemacht wurden. Soviel ich weiß gibt es unterschiedliche Strategien bei solchen Tätern, die ein gewisses Opferprofil anvisieren.

Wenn man eine solche Geschichte etwa vierzig bis fünfzig Jahre später erzählt, bietet die literarische Verarbeitung verschiedene Möglichkeiten. Eine Distanzierung durch formale Elemente, Eine Distanzierung durch den kommentarlosen Bericht über den Ablauf der Dinge. Bei allem, meine ich, wäre es von Vorteil für die Schreiberin und ihren Text gewesen, hätte ihr analytisches Auge die Punkte erwischt, wo sie selbst "unerklärlich" handelt.

Ich hoffe, Zefira, dass ich deine Frage, zumindest teilweise beantwortet habe.

liebe Grüße
Renée

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allerleirauh
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Beitragvon allerleirauh » 23.09.2012, 17:46

liebe renate,

ich habe deinen text mit interesse gelesen. es sind, auch in der zweiten fassung, noch ein paar kleine sprachliche sachen enthalten, die ich soeben zu korrigieren versuchte, allerdings hat mir die technik einen strich durch die rechnung gemacht. vielleicht versuche ich das abends noch einmal.

zur reaktion des männlichen mitschreiberlings muss ich sagen, dass ich sie nachvollziehen kann. ich kann mir erklären, warum jemand einen solchen, offensichtlich autobiographischen, text ablehnt. es ist ohne zweifel nicht die feine englische art, andererseits mutet die schreiberin des vergewaltigungstextes dem auditorium auch einiges zu.
ich persönlich bin skeptisch, was solche "outings" angeht. selbstverständlich bietet schreiben eine (therapeutische) möglichkeit, derart traumatische erlebnisse zu verarbeiten. ob aber der schreibzirkel der richtige ort ist, damit an die öffentlichkeit zu gehen, weiß ich auch nicht. mir scheint, bei einem psychologen oder/und einer freundin, einem vertrauten in jedem falle, wären diese geschichten besser aufgehoben.

hat nicht fast jeder mensch in irgendeiner art traumatische erfahrungen gemacht? könnte nicht jeder von uns seine mitmenschen damit beschäftigen (und belasten)?

(off topic: mich erinnert das an eine episode aus der schule. ich kam aus dem erziehungsurlaub wieder und eine kollegin hatte, ohne das mit mir abzusprechen, lektüre für eine 7. klasse bestellt, die ich behandeln sollte. ich habe den namen des buches vergessen. eines dieser reißerischen jugendbücher. der missbrauch eines mädchens wurde darin bis ins kleinste detail beschrieben. ich weigerte mich, dieses buch zu behandeln. ich wollte die problematik nicht vor einer ganzen klasse auswalzen. aber: die bücher waren gekauft worden! es wurde eine versammlung einberufen, auf der sich jeder noch einmal positionieren sollte. ich legte meine gründe dar. daraufhin brach die kollegin buchbestellerin heulend und schluchzend vor versammelter menge zusammen und gestand, auch einmal missbraucht worden zu sein. sie wolle das allen mädchen ersparen und sie vermute, dass es auch unter den schülern missbrauchte gäbe, die darüber reden müssten...
ungeachtet der tatsache, dass mir jeder mensch leid tut, der gewalt ausgesetzt war/ist, fand ich diese aktion damals dämlich. ein versuch, mich und die anderen kollegen zu korrumpieren. ich habe nie verstanden, warum die kollegin ihr trauma ausgerechnet vor oder mit einer siebten klasse aufarbeiten wollte. so es dieses trauma denn wirklich gab. )

ist es denn überhaupt möglich, einen solchen text unvoreingenommen zu beurteilen, wenn man weiß, dass persönliches leid dahinter steht? schwierig, finde ich. ich wäre befangen.

mir ist übrigens klar, dass dies nicht der ansatz deiner hauptüberlegungen ist! mir sind solcherlei texte nur hin und wieder auch schon untergekommen und jedes mal hat mich dasselbe unbehagen beschlichen. vielleicht ging es dem mann ähnlich.

dass opfer sich durch bestimmte umstände (leichter) zu opfern machen lassen, glaube ich schon. und dass der mensch über grandiose verdrängungsmechanismen verfügt, die er bei bedarf bewusst oder unbewusst aktivieren kann, ist mir auch bekannt.

lg
a

Sam

Beitragvon Sam » 25.09.2012, 20:04

Hallo Renée,

mir fehlt leider im Moment die Zeit, auf deinen Text genauer einzugehen. Aber ich muss zugestehen, dass mich die Schnelligkeit, in der du neue Fassung deiner Texte einstellst etwas verwirrt (und ehrlich gesagt auch ein wenig nervt).

Selbst beim oberflächlichen Lesen sind beide Versionen derart unterschiedlich, dasss ich mich frage, was du nun genau erzählen wolltest (Ich rede nicht von der Verbesserung von RS oder gewissen Formulierungen). Du scheinst in der zweiten Fassung Erklärungen liefern zu wollen, die zwar inhaltlich eine gewisse Erhellung bringen, literarisch aber eher kontraproduktiv sind.

Mehr in den nächsten Tagen.


Gruß

Sam

PS: Du hast dir hier einen sehr spannenden Gegenstand gewählt. Du Frage ist nur: Willst du ihn sachlich argumentieren oder erzählerisch (bzw. essayistisch) darstellen.

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Ylvi
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Beitragvon Ylvi » 26.09.2012, 09:49

Hallo Renée,

sowohl in deinem letzten Blogeintrag, wie auch hier, sehe ich eine große und irritierende Diskrepanz zwischen dem, was du laut deinen Kommentaren aussagen wolltest und dem, was mir die Texte vermitteln.
Hier empfinde ich die Frage nach Schuld und Unschuld auf eine Weise verknüpft, die den Schluss doch sehr nahelegen, dass es um eine Schuldsuche auf der Opferseite geht, um eine Schuldzuweisung weg vom Täter. Vor allem diesen letzten Passus finde ich in der Hinsicht mehr als unglücklich formuliert.

Derjenige, der sich dieser Geschichte annehmen würde, müsste die Psyche der weiblichen Hauptperson von vornherein so anlegen, dass sich die verschiedenen Aktionen erklären lassen aus dem Wunsch des Mädchens mit allen Fibern zu einer Gemeinschaft zu gehören. Drei Pfennige für ein Waffeleis dem Busgeld abschwindeln zu müssen, hätte eine gewisse Übung und Geschick verlangt. Des Weiteren hätte sich möglicherweise ein etwas unromatischeres Nachdenken über den Wunsch nach Waffeleis einstellen können. Im Waffeleis soviel Freude finden zu wollen, all diese heimlichen Wünsche, die sich langsam zu Hindernissen aufstellen, das Leben neben dem Leben, die Sexualität neben der sexuellen Erfüllung, all das schuf in dem Mädchen eine Art Passivität, eine Blindheit, die ihm in der Geschichte richtiges Handeln und Reaktionsbereitschaft lähmten.

Ich kann die Reaktion meines rechten Nachbarn nur verstehen als eine Auflehnung gegen zu billige Art, aus einer in der Tat mitreißenden, bewegenden Geschichte nur das zu machen, was Brutalität und Unschuld in Wechselwirkung hergeben. Nicht aber noch eine Schraubenwendung tiefer gedreht zu haben, dahin, wo das Opfer sich selbst teilnehmen sieht an der Jagd, deren Ziel dennoch sein wird, sich selbst fallen zu sehen.

Der Wunsch nach einem Eis, ist der Wunsch nach einem Eis. Das Opfer hat nicht an der Jagd teilgenommen. Dass hier sogar noch so unklar formuliert ist, dass es unterschwellig andeuten könnte, dass das Mädchen heimlich sexuelle Erfüllung suchte, seine Wünsche und seine "Schuld" mit der des Täters zu verquicken, erinnert mich dann tatsächlich an die Rechtfertigungen vieler Vergewaltiger und Kinderschänder.
Aus meiner Sicht bedürfen beide Texte noch der gründlichen Überarbeitung, um deine Intention klarer werden zu lassen und diese Missverständlichkeiten herauszunehmen.

Liebe Grüße
Flora
Das ist das Schöne an der Sprache, dass ein Wort schöner und wahrer sein kann als das, was es beschreibt. (Meir Shalev)

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Zefira
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Beitragvon Zefira » 27.09.2012, 00:21

Liebe Renée,
ich habe heute viel über den Text nachgedacht, auch eben mit meinen Töchtern ein kleines Experiment gemacht.
Das Ergebnis des Experiments - wir haben die Szene beim Einsteigen "nachgestellt" - ist, dass unserer Meinung nach das Mädchen die Nacktheit des Mannes nicht zwingend hätte erkennen können, ehe sie eingestiegen war. Vermutlich hat sich der Mann über den Beifahrersitz zur Tür hin gelehnt, um ein paar Sätze mit dem Mädchen zu wechseln. Je nachdem, wie er sonst bekleidet war und zu welcher Jahreszeit sich das Ganze abspielte, hat sie möglicherweise nur die nackten Knie sehen können und dabei nichts Ungewöhnliches gefunden.

Worauf ich hinaus will:
Du hast mit dem Thema Blindheit gegenüber Nacktheit ein paar sehr interessante Fragen gestellt, und ich finde es legitim, sie zu stellen und sich darüber Gedanken zu machen, ob und inwieweit man Ähnliches schon erlebt hat und was man sich dabei dachte. Die Geschichte, die Du als Einstieg gewählt hast, ist in meinen Augen aber kein gutes Beispiel. Es gibt vielerlei erziehungsbedingte Verhaltensweisen von Opfern sexueller Übergriffe, die dem Täter die Tat erleichtern. Als ich noch klein war, wurde ständig vor Übergriffen gewarnt, schon lange ehe mir überhaupt richtig klar war, worum es dabei ging. Ich bekam immer, wenn ich allein "in die Stadt ging", die Ermahnung mit: "Lass dich auf nichts ein". Mir war dabei nur sehr vage bewusst, wovor da eigentlich gewarnt wurde, aber die Warnung wurde so oft wiederholt, dass ich fast immer, wenn ich allein unter fremden Menschen war, das Gefühl einer allgemeinen Gefährdung und Ausgesetztheit hatte. Ich erinnere mich gut. In einer solchen Verfassung gibt ein sehr junger Mensch möglicherweise schneller die Kontrolle ab, als eigentlich sein müsste, und verfällt beim ersten konkreten Anzeichen einer Bedrohung in eine Art Schockstarre oder "Totstellhaltung". Wenn man in diesem Zusammenhang aber mit Begriffen wie Schuld und Unschuld argumentiert, breiten sich schnell Missverständnisse aus.

Um Dein Thema, das ich wie gesagt für interessant halte, literarisch zu entwickeln, würde ich die Geschichte mit dem Bild weit geeigneter finden. Zunächst sind die Tatsachen da weitaus klarer, man gerät nicht so leicht auf ein Nebengleis wie ich mit dem Nachstellen der Einsteigeszene, um die Tatsachen zu überprüfen. Und vor allem kannst Du von Dir selbst erzählen und bleibst nicht, wie jetzt, in dem Fazit stecken, dass die Erzählerin die Schraube hätte tiefer drehen müssen (ein sehr treffendes Bild), weil Du selbst den Schraubenzieher in der Hand hast. Denn das muss ich dazu noch sagen: So wie die Geschichte jetzt da steht, machst Du es Dir einerseits zu schwer, andererseits zu bequem. Zu schwer deshalb, weil Du ins moralische Fahrwasser gerätst mit der Frage, was das Opfer selbst beigetragen hat - und zu bequem, weil Du die Verantwortung für die Geschichte der Erzählerin in dem Schreibseminar zuschieben kannst. Beschäftige Dich doch lieber mit dem Bild und dem selbst erlebten Beispiel solcher "Blindheit".

Liebe Grüße
Zefira

ps. Ich habe es ein paarmal erlebt, dass Frauen in Schreibwerkstätten mit solchen selbst erlebten Übergriffen kamen. Erst kürzlich ist eine Teilnehmerin in unsere Gruppe gekommen mit dem expliziten Wunsch, das Trauma ihrer Jugend mit unserer Hilfe literarisch aufarbeiten zu können. Sie fiel förmlich mit der Tür ins Haus. Wie soll man einen derartigen Text auf sachlicher Ebene diskutieren? Gott sei Dank ist die Betreffende schnell wieder weggeblieben.
Vor der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.
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(Ikkyu Sojun)

Sam

Beitragvon Sam » 28.09.2012, 19:16

Hallo Renée,

ich halte mich an deine erste Version, den ich denke, du bist ein so erfahrene Erzählerin, dass die ursprüngliche Fassung dem wesentlich näher ist, was und auch wie du erzählen wolltest.

Zwei Aspekte scheinen mir hier den Kern auszumachen: Einmal die "Schuldfrage" (warum in Anführungszeichen erkläre ich gleich), und danach die Frage des Erzählens.

Beides ist im Hinblick auf die heikle Thematik sehr spannend.

Zunächst zum Thema Schuld.

Ich denke nicht, dass es dir darum ging, hier die Tat des Vergewaltigers zu relativieren (so nach dem Motto: wenn die Frauen kurze Röcke tragen, dann müssen sie sich nicht wundern, wenn sie vergewaltigt werden).

Es geht um fehlende Wahrnehmung, um Blindheit und die Frage, inwieweit ist diese Blindheit selbstverschuldet. Wobei Schuld (deswegen die Anführungsstriche) nicht in dem Sinne von "verantwortlich sein für etwas" zu verstehen ist, sondern als tragische (!) Verflechtung in die Kausalkette. Hätte sie sehen können, dass der Mann im Auto keine Hosen trug? Hätte sie es sehen müssen?

Man kann kann der Frage empirisch nachgehen (wie Zefi das getan hat), aber das ist meiner Meinung nach nicht Absicht des Textes. Er stellte die Frage, warum hat das Mädchen es nicht gesehen, obwohl sie es hätte sehen können? Gab es da für einen kurzen Moment eine unbewusste Verbrüderung zwischen dem Mann und dem Mädchen aufgrund der Tatsache, dass beide etwas Verbotenes taten bzw. getan hatten? Und hatte (womit wir uns wohl tief in den Gefilden freudscher Psychoanalyse befinden) das Übertreten von Verboten für das Mädchen letztlich einen verborgenen sexuellen Aspekt, der sie für einen Augenblick blind machte für offen zur Schau gestellte sexuelle Ambition? Oder war es der unbewusste Schuldreflex seitens des Mädchens, das kurze Aufblitzen des Gedankens: Das geschieht mir jetzt recht (was weniger eine sexuelle, sondern eher eine religiöse Motivation vermuten lässt)?

Wie aber passt Courbet und das Musée d’Orsay da hinein? Meiner Meinung nach überhaupt nicht. Weil die Erzählerin nicht zu erklären vermag, warum ihr die Nacktheit der Frau nicht aufgefallen ist. Hier wünsche ich mir eine Stellungnahme, eine Verbindung zu der Geschichte der Frau. Das Nichtwahrnehmen einer nackten Frau in einem Kunstwerk, oder eines halbnackten Mannes in einem Auto, in das man zu steigen im Begriffe ist, unterschieden sich doch zu sehr voneinander.

Noch zum zweiten Hauptaspekt, dem des Erzählens. Der ist insofern interessant, weil das, was im Text beschrieben wurde, wohl auch zum Teil nun in Wirklichkeit bei Lesern stattfindet. Eine 1:1 Umsetzung, die jegliche Möglichkeit nimmt, den Text sozusagen in die Hand zu nehmen und sich zu eigen zu machen. Wie die sachliche Erzählung der Frau in literarischer Hinsicht keinen Eindruck hinterlässt, weil sie trotz ihrer Tragik vordergründig verbleibt, läuft auch der hier eingestellte Text Gefahr, das gleiche Schicksal zu erleiden. Zwar sagt niemand "Scheiße", aber es wird eindeutige Positionierung gefordert, als ginge es darum, sich der Integrität der Autorin zu versichern.

Aus der Nähe vermag sich niemand zu beschreiben und aus der Ferne werden die Konturen so unscharf, dass man nachbessern muss. Das Mädchen vermag durch eine einfache Erzählung ihre Zuhörer nicht in ihre Geschichte zu zwingen, weil sie so erzählt wie es für sie war, und nicht so, wie ein Beobachter es beschrieben hätte. Sie kann sich nicht als Teilnehmer ein Jagd beschreiben, die ihren Fall zum Ziel hat, weil der Impuls des Erzählens die Flucht ist, die ihr damals nicht gelang. Was sie nicht versteht ist, dass man Schraube und Schraubendreher zugleich sein kann, ja muss, will man persönliches erzählen.

Die Frage bleibt, ob das der Erzählerin dieses Textes gelungen ist, oder ob sie nicht beim Berichten über die Frau in der Schreibgruppe in die selbe Falle getreten ist.


Gruß

Sam

Renée Lomris

Beitragvon Renée Lomris » 03.10.2012, 15:48

So, nun will ich einmal versuchen, den interessanten Kommentaren hier das Wasser zu reichen.

@flora,

es tut mir leid, dass dieser Text wieder solche Missdeutungen zuläßt. Das liegt an vier Dingen. Einmal haben sich die moralischen Kriterien von einer Generation zur andern extrem verändert. (1) (Das ist eine Hypothese, keine These)
Während für unsere Generation es wohl kein eigentliches Trauma darstellte (mE) darstellen DURFTE) - aber gegen Sexismus öffentlich und politisch gekämpft wurde, (3) scheint mir die junge Generation ganz besonders von der deklarativen Zuordnung bestimmter Verhaltensweisen geprägt. Keine Zwei- oder vieldeutige Aussage, klare Zuordnung zum Lager der Opfer, klare Ablehnung des Täters. (4)

Mein Text ist kein Plädoyer für den einen oder den anderen. Er plädiert hächstens dafür, dem nachzugehen, was man selbst erzählt. Sich ernst zu nehmen....



@ allerleirauh,

zur reaktion des männlichen mitschreiberlings muss ich sagen, dass ich sie nachvollziehen kann. ich kann mir erklären, warum jemand einen solchen, offensichtlich autobiographischen, text ablehnt. es ist ohne zweifel nicht die feine englische art, andererseits mutet die schreiberin des vergewaltigungstextes dem auditorium auch einiges zu.
ich persönlich bin skeptisch, was solche "outings" angeht. selbstverständlich bietet schreiben eine (therapeutische) möglichkeit, derart traumatische erlebnisse zu verarbeiten. ob aber der schreibzirkel der richtige ort ist, damit an die öffentlichkeit zu gehen, weiß ich auch nicht. mir scheint, bei einem psychologen oder/und einer freundin, einem vertrauten in jedem falle, wären diese geschichten besser aufgehoben.

hat nicht fast jeder mensch in irgendeiner art traumatische erfahrungen gemacht? könnte nicht jeder von uns seine mitmenschen damit beschäftigen (und belasten)?


so ging es mir in der Tat. Ich wusste nur nicht genau, wie ich das ausdrücken sollte. Ich finde, dass eine bestimmte Art von Literatur immer belastet. Primo Levi belastet mich sehr ... Man müsste sich fragen, welches Ziel die Belastung hat, und vor allem, man müsste beim "traumatischen Elebnis"-Thema nicht vergessen, dass nur Vielschichtigkeit (und, wenn möglich Humor) dem Trauma schriftstellerisch etwas abringen können. Dass das schwer ist, sieht man leider an meinem Text. Dasselbe gilt für solche von uns allen erlebten Traumata ... und wieder ist die Umsetzung das Problem.


@Zefira,

du beschreibst sehr gut das Dilemma, in dem ich seit zehn Tagen im Kreis herumlaufe. Ja, ich sehe den Zusammenhang zwischen Blindheit und Nacktheit so, wie du ihn beschreibst. Danke für einen sehr einfühlsamen Kommentar. Ich werde versuchen das Thema des Courbet-Gemäldes aufzugreifen.

@Sam,

ein Kommentar, der langsam aber sicher der Sache auf den Grund geht. Ich würde sagen, dir ist das Schraubendrehen sehr gut gelungen, während bei mir der handwerkliche Rahmen, das Drehen und Drechseln überhandnahm.

Aber ich schreibe an einem Text, der vielleicht noch eingestellt wird.

liebe Grüße an alle
habt herzlichen Dank
lD
Renée


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