Meine milden Exzesse
Das rechte Ohrläppchen meiner Mutter ist krumpelig, ich berühre es – ein Wagnis! – , während sie den Wagen lenkt, als Einleitung: Trinkst du auch genug. Eine gewagte, eine lächerliche Frage. Ihr Ohrläppchen fühlt sich nicht bedrohlich an, einfach nur weich und alt. Sie überrascht mich damit, dass sie rot wird, meine trotz allem zurückhaltende Mutter, und nach einem Zögern sanftmütig nickt: Jaja, morgens allein schon eine Kanne Tee. Sie mag nicht darüber reden, über das Alter, aber ich wage mich noch weiter vor in dieser uns ungewohnten Konversation: Wenn man älter wird, trinkt man nicht mehr so viel, hab ich gelesen. Man muss darauf achten, weißt du, Mama. Eine lächerliche Feststellung – wer, wenn nicht meine Mutter, sollte besser wissen, sich auskennen: mit dem Altwerden, mit dem Trinken, und mit der Gesundheit. Doch immer noch weist sie mich nicht ab, auch nicht zurück, sondern macht ein Gesicht, als hätte ich sie bei irgendwas ertappt, über das sie nun nachdenken muss.
Ich wundere mich auch über mich: Wie lange hab ich sie nicht mehr anzuschauen gewagt – nicht mal schüchtern (oder feige) von der Seite.
Später schaue ich wieder – ihr Ohr ist jetzt glatter, als hätte mein Blick allein es besänftigt.
(Meine milden Exzesse belächeln mich mit mildem Spott, und der immerjunge Schmerz im Magen fühlt sich an wie eine alte Heimat, aber das ist eine andere innere Angelegenheit.)
Meine milden Exzesse
ich habe gesehen, dass schon sehr viel geschrieben worden ist, zu diesem kleinen text, aber was da geschrieben worden ist, habe ich noch nicht gelesen, das nur vorweg.
was mich am besten gefallen hat war der satz "das ist eine andere innere angelegenheit", was ich auch mag ist die idee, die ich aus der geschichte lese, die heilkraft, die im hinschauen (in sich selbst und seine inneren angelegenheit, aber auch an und in den anderen, ans ohrläppchen und in die augen, ins gesicht) liegt. und ich mag es, dass sich hier ein großes thema (nein eigentlich ein ganzes themenbündel; generationenverhältnis, mutter-tochter, alt-jung, sich sorgen versus bevormunden... ) an einem kleinen ohrläppchen beschrieben wird.
was ich nicht mag ist der titel, die milden exzesse, ich mag wortspiele, aber hier passt es nicht zur zartheit des erzählten, hier ist es wie ein etikett, das mir den geschmack vorschreiben will. es wird auch klar, warum die erzählerin ihre mutter nicht anzuschauen gewagt hat, eine erzählerin, die sich selbst beurteilt, kritisiert, bewertet, dass man beinahe wütend werden will, die sich wundert, nicht abgewiesen zu werden und dann die mutter, die ein gesicht macht, als hätte die tochter sie ertappt, da erzählen zwei sätze, eine ganz einfach kleine szene eine ganz große geschichte von vielen verletzungen und mißverständnissen und davon, dass es vielleicht doch noch blicke gibt, die das ganze besänftigen können.
was mich am besten gefallen hat war der satz "das ist eine andere innere angelegenheit", was ich auch mag ist die idee, die ich aus der geschichte lese, die heilkraft, die im hinschauen (in sich selbst und seine inneren angelegenheit, aber auch an und in den anderen, ans ohrläppchen und in die augen, ins gesicht) liegt. und ich mag es, dass sich hier ein großes thema (nein eigentlich ein ganzes themenbündel; generationenverhältnis, mutter-tochter, alt-jung, sich sorgen versus bevormunden... ) an einem kleinen ohrläppchen beschrieben wird.
was ich nicht mag ist der titel, die milden exzesse, ich mag wortspiele, aber hier passt es nicht zur zartheit des erzählten, hier ist es wie ein etikett, das mir den geschmack vorschreiben will. es wird auch klar, warum die erzählerin ihre mutter nicht anzuschauen gewagt hat, eine erzählerin, die sich selbst beurteilt, kritisiert, bewertet, dass man beinahe wütend werden will, die sich wundert, nicht abgewiesen zu werden und dann die mutter, die ein gesicht macht, als hätte die tochter sie ertappt, da erzählen zwei sätze, eine ganz einfach kleine szene eine ganz große geschichte von vielen verletzungen und mißverständnissen und davon, dass es vielleicht doch noch blicke gibt, die das ganze besänftigen können.
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