Herkünfte

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Quoth
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Beitragvon Quoth » 05.05.2010, 20:50

Herkünfte
(Erweiterte Zweitfassung)

Woher einer kommt, musst du wissen, sagte meine Großmutter. Sonst weißt du nicht, wer er ist. Eine Herkunft hat jeder. Und das ist auch gut so. Keiner ist ein unbeschriebenes Blatt. Und es sind die Vorfahren, die es beschreiben. Mit ihren Genen. Dies Wort benutzte meine Großmutter nicht. Ich habe es ihr in den Mund gelegt, weil sie es benutzt hätte, wenn sie es gekannt hätte. Ist ja auch egal. Sie war jedenfalls eine tolle Frau. Drei Töchter und zwei Söhne, beide im Krieg geblieben, Kurt vor Tobruk, Fritz bei Narvik. Ihr Mann erst nach zehn Jahren Gefangenschaft aus Russland zurück. Und immer der Meierhof, immerhin an die 240 Hektar, 90 Stück Milchvieh, 20 Schweine. Das alles mit den drei Töchtern, von denen nur eine verheiratet war, meine Mutter. Aber auch ihr Mann war im Krieg und kam nur selten auf Urlaub. Er roch nach Leder und Zigaretten und ließ Holger mit seiner Pistole spielen. Aber dann war er ebenso plötzlich wieder weg, wie er gekommen war. Da war manchmal Not am Mann. Ich war ja noch klein damals, aber Schweineeimer durfte ich schon schleppen. Mein Vater wurde verwundet, kam heim und konnte wieder mit anpacken. Aber nur mit einer Hand. Die andere lag bei Montecassino. Sogar Arbeitspferde hatten wir noch, die Lotte und den Jupp, einen riesigen Wallach. Naja, Treibstoff war teuer und kaum zu haben, da blieb das Dieselross in der Scheune. Die Erde aber wollte gepflügt sein. Dann stieg eben die Großmutter auf den Pflug. Omi durfte ich sie nicht nennen, das fand sie platt. „Ich bin nicht deine Omi!“ Sie war sehr eigen in vieler Hinsicht.

Vier Geschwister hab ich, Holger, zwei Jahre älter, Ute, ein Jahr neun Monate, und Kurt jun., vier Jahre jünger als ich. Dann ist da noch Silke, nur ein halbes Jahr älter als ich. Zu früh gekommen. So hat man es mir erzählt, als ich anfing, Fragen zu stellen. Die armen Frauen damals, und mitten im Krieg. Eine Schwangerschaft jagte die andere, und das unter diesen Umständen! Rundherum Weltkrieg und grässlichstes Unrecht – und sie zeugten fröhlich weiter! Gut, vielleicht hätten sie’s lassen sollen. Man weiß nie, was wird. Ich war auch nicht immer nur ein glücklicher Mensch. Wie gern hätte ich studiert! So musste ich mir alles auf eigene Faust anlesen. Aber das hat auch seine Vorzüge. Ich liebte die amerikanischen Autoren. Meine Mutter und die Tanten lasen sie, und da las ich sie auch. „Der alte Mann und das Meer.“ Was für ein Buch! Immer, wenn ich den Pflug durch den Schwarzgrund zog, wo die Mooreichen liegen, die sich in der Pflugschar verfingen, war mir, als zöge ich ein Gerippe hinter mir her. So einen Hof durch all die Schwierigkeiten führen – kein Pappenstiel, ich sag es. Aber ich will nicht jammern, sonst heißt es noch: Ihr Bauern jammert doch immer! Stimmt natürlich. Das ist wie beim Doppelkopf. Da stöhnt beim Geben auch jeder über sein mieses Blatt, damit nur keiner ahnt, dass er eine Hochzeit auf der Hand hat. Wir wären ja blöd, wenn wir sagten: Uns geht’s gut! Man würd’ uns sofort die Subventionen streichen! Und ohne die läuft doch gar nichts.

Irgendwann konnte Großmutter dann nicht mehr. Ob es Überarbeitung war oder Veranlagung, wer weiß es. Magenkrebs. Sie legte sich hin und stand nicht wieder auf. Strahlentherapie und Chemo – naja, das waren die 50er, da war die Medizin noch nicht so weit wie heute. Und das Schlimmste: Es durfte nicht drüber gesprochen werden. Großvater war grad aus Workuta zurück und setzte wieder ein bisschen Fett an. Ich weiß nicht, ob Großmutter sich gefreut hat über das Klappergestell. Sie sagt, sie hätte ihn nicht erkannt, wenn er nichts gesagt hätte. An der Stimme hat sie ihn erkannt. Die war nicht abgemagert. Das war seine Stimme. Und dann das – sie legt sich hin und steht nicht wieder auf. Und wer zu ihr reinging: Mundwinkel hoch! Kein Wort über die Krankheit! Zuversicht vorspielen! Ich glaube, sie wusste längst bescheid. Sie war ja nicht blöd und hatte schon andere an Krebs sterben sehen. Aber sie dachte, nur sie allein wüsste es. Deshalb hat sie uns auch die Hoffnungsvolle vorgespielt. Das war ein falsches Gegrinse auf beiden Seiten. Würdelos! Aber so machte man das damals. Der Wahrheit ins Auge zu sehen, das war nicht die Art der 50er. Gerochen hat es schlimm in dem Zimmer. Die Arme! Sie ahnte, dass wir uns vor ihr ekelten und bestand so lange auf Lüften, bis sie sich eine Lungenentzündung zuzog. Dass eine so reinliche Frau bei lebendigem Leib verfaulen muss! Ihre Milchküche hatte immer geblitzt und geblinkt. Ich hab sie geliebt, diese Frau. Und bewundert. Und dann wurde sie in die Erde gelegt. Unter dem üblichen Pomp der Schwarzröcke. Dabei war sie gottgläubig gewesen und hatte oft gesagt: „Man wird mir das Kreuz nachwerfen, mir ist es gleich. Geglaubt hab ich nicht daran.“

Der Großvater erzählte, dass die Krähen ihn vor dem Hungertod bewahrt hätten in Sibirien. Er sei auf ihre Nistbäume gestiegen, hätte ihnen die Eier unterm Bauch weggeklaut und ausgetrunken. Wenig später starb auch er. Und dann kam der Tag, an dem meine Eltern mir eröffneten, dass ich der Hoferbe sei. Der Hof gehe an mich, weil ich der älteste Sohn sei, denn Kurt und Fritz seien gefallen, der eine vor Tobruk, der andere bei Narvik.

Ich muss ziemlich blöd geguckt haben, als ich das hörte. Ich habe nur meinen Vater angeschaut, aber der hat ernst und ein wenig betreten genickt. „Ich war auf Urlaub. Mutter war im sechsten Monat mit Silke. Und da ist Großmutter nachts den einsamen Soldaten trösten gekommen.“ Meine Mutter hat unter Tränen gelächelt und hat mich in den Arm genommen. Für mich blieb sie meine Mutter, auch wenn sie eigentlich meine Halbschwester ist. Und gut, dass ich sie hatte; denn mit dem Heiraten, das hat sich nie ergeben.


(Erstfassung)
Woher einer kommt, musst du wissen, sagte meine Großmutter. Sonst weißt du nicht, wer er ist. Eine Herkunft hat jeder. Und das ist auch gut so. Keiner ist ein unbeschriebenes Blatt. Und es sind die Vorfahren, die es beschreiben. Mit ihren Genen. Dies Wort benutzte meine Großmutter nicht. Ich habe es ihr in den Mund gelegt, weil sie es benutzt hätte, wenn sie es gekannt hätte. Ist ja auch egal. Sie war jedenfalls eine tolle Frau. Drei Töchter und zwei Söhne, beide im Krieg geblieben, Kurt vor Tobruk, Fritz bei Narvik. Ihr Mann erst nach fast zehn Jahren Gefangenschaft aus Russland zurück. Und immer der Reichserbhof, immerhin an die 240 Hektar, 90 Stück Milchvieh, 20 Schweine. Das alles mit den drei Töchtern. Da war manchmal Not am Mann. Ich war ja noch klein damals, aber Schweineeimer durfte ich schon schleppen. Sogar Arbeitspferde gab es noch, die Lotte und den Jupp. Naja, Treibstoff war teuer und kaum zu haben, da blieb das Dieselross in der Scheune. Die Erde aber wollte gepflügt sein. Dann stieg eben die Großmutter auf den Pflug. Omi durfte ich sie nicht nennen, das fand sie platt. „Ich bin nicht deine Omi!“ Sie war sehr eigen in vieler Hinsicht.

Vier Geschwister hab ich, Holger, zwei Jahre älter, Ute, ein Jahr neun Monate, und Kurt jun., vier Jahre jünger als ich. Dann ist da noch Silke, nur ein halbes Jahr älter als ich. Zu früh gekommen. So hat man es mir erzählt, als ich anfing, Fragen zu stellen. Die armen Frauen damals, und mitten im Krieg. Eine Schwangerschaft jagte die andere, und das unter diesen Umständen! Rundherum Weltkrieg und grässlichstes Unrecht – und sie zeugten fröhlich weiter! Gut, vielleicht hätten sie’s lassen sollen. Man weiß nie, was wird. Ich war auch nicht immer nur ein glücklicher Mensch. So einen Hof durch all die Schwierigkeiten führen – kein Pappenstiel, ich sag es. Aber ich will nicht jammern, sonst heißt es noch: Ihr Bauern jammert doch immer! Stimmt natürlich. Das ist wie beim Doppelkopf. Da stöhnt beim Geben auch jeder über sein mieses Blatt, damit nur keiner ahnt, dass er 'ne Hochzeit auf der Hand hat. Wir wären ja blöd, wenn wir sagten: Uns geht’s gut! Man würd’ uns sofort die Subventionen streichen!

Irgendwann konnte sie dann nicht mehr. Ob es Überarbeitung war oder Veranlagung, wer weiß es. Magenkrebs. Sie legte sich hin und stand nicht wieder auf. Strahlentherapie und Chemo – naja, das waren die 50er, da war die Medizin noch nicht so weit wie heute. Und das Schlimmste: Es durfte nicht drüber gesprochen werden. Großvater war grad aus Workuta zurück und setzte wieder ein bisschen Fett an. Ich weiß nicht, ob Großmutter sich gefreut hat über das Klappergestell. Sie sagt, sie hätte ihn nicht erkannt, wenn er nichts gesagt hätte. An der Stimme hat sie ihn erkannt. Die war nicht abgemagert. Das war seine Stimme. Und dann das – sie legt sich hin und steht nicht wieder auf. Und wer zu ihr reinging: Mundwinkel hoch! Kein Wort über die Krankheit! Zuversicht vorspielen! Ich glaube, sie wusste längst bescheid. Sie war ja nicht blöd und hatte schon andere an Krebs sterben sehen. Aber sie dachte, nur sie allein wüsste es. Deshalb hat sie uns auch die Hoffnungsvolle vorgespielt. Das war ein falsches Gegrinse auf beiden Seiten. Würdelos! Aber so machte man das damals. Der Wahrheit ins Auge zu sehen, das war nicht die Art der 50er. Gerochen hat es schlimm in dem Zimmer. Die Arme! Sie ahnte, dass wir uns vor ihr ekelten und bestand so lange auf Lüften, bis sie sich eine Lungenentzündung zuzog. Dass eine so reinliche Frau bei lebendigem Leib verfaulen muss! Ihre Milchküche hatte immer geblitzt und geblinkt. Ich hab sie geliebt, diese Frau. Und bewundert. Und dann wurde sie in die Erde gelegt. Ohne großes Gedöns. Ein gottgläubiger Redner hielt eine Rede. Ich fand das gut. Warum einer Toten, die nicht dran geglaubt hat, das Kreuz nachwerfen?

Der Großvater erzählte, dass die Krähen ihn vor dem Hungertod bewahrt hätten in Sibirien. Er sei auf ihre Nistbäume gestiegen, hätte ihnen die Eier unterm Bauch weggeklaut und ausgetrunken. Wenig später starb auch er. Und dann kam der Tag, an dem meine Eltern mir eröffneten, dass ich der Hoferbe sei. Der Hof gehe an mich, weil ich der älteste Sohn sei, denn Kurt und Fritz seien gefallen, der eine vor Tobruk, der andere bei Narvik.

Ich muss ziemlich blöd geguckt haben, als ich das hörte. Ich habe nur meinen Vater angeschaut, aber der hat ernst und ein wenig betreten genickt. Und meine Mutter hat unter Tränen gelächelt und mich in den Arm genommen. Für mich blieb sie meine Mutter, auch wenn sie eigentlich meine Halbschwester ist. Und gut, dass ich sie hatte; denn mit dem Heiraten, das hat sich nie ergeben.
Zuletzt geändert von Quoth am 11.05.2010, 19:24, insgesamt 3-mal geändert.
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Sam

Beitragvon Sam » 08.05.2010, 07:39

Hallo Quoth,

die Geschichte, die hier erzählt wird ist sehr interessant und nur zu gerne würde ich einfach schreiben: Klasse! Aber das geht leider nicht, weil sie doch einige Schwächen hat, die beim mehrmaligen Lesen immer deutlicher hervortreten.

Aber bevor ich anfange zu meckern, will ich erst mal sehen, ob ich das Ganze überhaupt richtig verstanden habe:

Der Erzähler wurde während oder kurz nach dem zweiten Weltkrieg geboren und wächst auf einem großen Gutshof auf. Dort lebt die Großmutter, deren drei Töchter sowie drei ältere Geschwister des Erzählers. Eine der drei Töchter hält der Erzähler für seine Mutter. Der Mann der Großmutter, sowie ihre beiden Söhne sind im Krieg. Nur der Großvater kehrt zurück. Als erst die Großmutter stirbt und kurz darauf ihr Mann, erfährt der Erzähler, dass er nun den Hof erbt, weil er eben nicht der Sohn einer der Töchter, sondern eben der Großmutter ist, gezeugt irgendwann während der Abwesendheit des Großvaters.

Der Fokus der Erzählung liegt bei der Großmutter zum einen, und den Lebensumständen auf dem Hof zum anderen. Es entsteht das Bild einer matriachalischen Gesellschaft unter dem Diktat der Großmutter. Das wird sich wahrscheinlich auch nicht geändert haben, als der Großvater aus dem Krieg zurückkam.

Nun zu meinen Problemen mit dem Text:

Der Titel lautet Herkünfte. Dies wird auch im Einstieg besprochen durch die Aussagen der Großmutter, frei nach dem Motto: Sag mir wo du herkommst und ich sag dir wer du bist. Allerdings wird dieses Thema im weiteren Verlauf des Textes fallen gelassen. Zwar gibt es jene Schlusspointe, aber sie bleibt ohne Wirkung, den wer der Erzähler wirklich ist, bleibt völlig unklar. Er versteckt sich hinter einer lakonischen, teilweise flappsigen Sprache. Das einzige Schlaglicht auf seinen Charakter werfen nur die Aussagen über das Gejammere der Bauern, aber selbst da sucht er Unterschlupf im Kollektiv.
Greifbar wird also nur die Großmutter (Mutter), deren Sterben sehr anschaulich beschrieben wird. Dieser Abschnitt ist auch der stärkste im Text. Alle anderen Person erschein nur äußerst Schemenhaft, bzw. gar nicht. Was ist z.B. mit dem Mann, den der Erzähler für seinen Vater hält. Der kommt, bis auf den letzten Absatz, überhaupt nicht vor.
Er müsste doch wenigsten bei der Aufzählung der Personen (Tanten, Onkels, Geschwister) irgendwie in Erscheinung treten. Der Erzähler ist ja, zu dem Zeitpunkt da er erzählt, ein erwachsener Mann. Er macht sich Gedanken über seine Herkunft, bleibt aber dabei einzig bei der Großmutter/Mutter. Dass alles andere beinnahe völlig ausgeblendet wird, erzeugt bei mir ein Gefühl der Unvollständigeit, was den Text angeht. Jedenfalls im Hinblick auf das Thema und den Einstieg.

Ein zweiter Kritikpunkt wäre die Sprache. Wie schon erwähnt, sie ist distanziert, ironisch, hie und da gewürzt mit einem ungelenken Sarkasmus. Mit anderen Worten: Es ist eine sehr moderne, junge, fast jungendliche Sprache. Und das passt meines Erachtens wenig zu einem Erzähler, der zum heutigen Zeitpunkt mal mindstens 65 wenn nicht schon 70 Jahre oder älter ist. In der Regel versucht man, je älter man wird, die Distanz zur Vergangenheit abzubauen, während junge Erzähler diese zumeist mit den erwähnten Mitteln aufzubauen suchen. Das ist eigentlich der Hauptpunkt, weswegen ich dem Erzähler die Geschichte nicht abnehme.

Wie gesagt, es gibt sehr gute und gelungene Passagen in dem Text, im Ganzen aber ist er mir zu unausgegoren, unscharf und sprachlich falsch angelegt.

Gruß

Sam

DonKju

Beitragvon DonKju » 08.05.2010, 09:44

Hallo Quoth,

ich glaube, wir hatten bisher noch nicht das Vergnügen. Eines gleich vorweg: Längere Texte am Bildschirm, die muß ich mir meistens in Portionen einteilen, also nicht böse sein, wenn ich mir erst einmal nur den ersten Absatz "vornehme". Denn es geht in diesem Forum ja um Textarbeit, soll heißen, auch Du stellst einen Text hier zur Diskussion, um daran zu arbeiten. oder ? Also los:

"Wo einer herkommt, das musst du wissen, sagte meine Großmutter immer. "Sonst weißt du nicht, wer er ist. Eine Herkunft hat ein jeder. So muss das sein. Keiner ist ein unbeschriebenes Blatt. Und es sind seine Vorfahren, die darüber bestimmen." ...

[Die Passage mit den Genen würde ich eher streichen, zumal der Erzähler es der Großmutter in den Mund legt. Oder hat sie einen Sinn, den ich übersehen habe ?]

... Sie war jedenfalls eine tolle Frau. Drei Töchter und zwei Söhne, beide im Krieg geblieben, der Kurt vor Tobruk, der Fritz bei Narvik. Ihr Mann kehrte erst nach fast zehn Jahren Gefangenschaft aus Russland zurück. Und dann der Reichserbhof, immerhin an die 240 Hektar, 90 Stück Milchvieh, 20 Schweine. Das alles nur mit den drei Töchtern. Da war schon manchmal Not am Mann. Ich war ja noch klein damals, aber Schweineeimer mußte ich schon schleppen. Sogar Arbeitspferde gab es noch, die Lotte und den Jupp. Naja, der Treibstoff war teuer und kaum zu haben, da blieb das Dieselross meist in der Scheune. Die Erde wollte aber gepflügt sein. Da stieg die Großmutter eben auf den Pflug. Omi durfte ich sie nicht nennen, das mochte sie nicht. „Ich bin nicht deine Omi!“ Sie war sehr eigen in vieler Hinsicht. ...

So das war's denn erst einmal. Natürlich ist es Deine Entscheidung, ob und was da auch für Dich gehen könnte.

In diesem Sinne grüßt DonKju

Quoth
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Beitragvon Quoth » 09.05.2010, 07:14

An Sam: Deine Kritik ist so fundamental, dass ich den Text komplett neu schreiben müsste. Das mache ich vielleicht mal, aber nicht jetzt. Vor allem würde mich interessieren, ob auch andere Leser den Text wegen seiner Sprache unglaubwürdig finden. Das ist das Kreuz mit der Rollenprosa: Von ihr wird vielfach eine Art dokumentarischer Wahrscheinlichkeit gefordert. Mein Icherzähler ist ein ungewöhnlicher Bauer, einer, der Bücher gelesen hat und der "jung geblieben" ist. Aber das kann ich hier alles behaupten - Du nimmst es mir nicht ab und damit punktum. Verstanden hast Du den Inhalt durchaus richtig, und auch die Einordnung, der Erzähler sei in einer "matriarchalischen" Welt aufgewachsen, trifft den Nagel auf den Kopf. Gerade deshalb aber rücken Vaterschaften bis zur völligen Vernachlässigung an den Rand. Vielleicht würde eine Titeländerung die Erwartungshaltung des Lesers positiv beeinflussen: Wäre "Der Erbe" treffender als der jetzige Titel? Trotzdem vielen Dank, dass Du Dich so gründlich mit dem Text auseinander gesetzt hast!
An DonKju: Der Großmutter fühlt sich der Icherzähler von Anfang an so nahe, dass er ihr auch Worte in den Mund legen kann. Der Icherzähler weiß ja schon, dass er nicht ihr Enkel, sondern ihr Sohn ist. Dieses Wissen mag da durchschimmern, ohne sich zu verraten.
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Sam

Beitragvon Sam » 09.05.2010, 12:20

Hallo Quoth,

ich würde nicht sagen, der Leser erwartet eine dokumentarische Wahrscheinlichkeit, sondern eine inhärente. Natürlich gleicht man das Gelesene immer mit der Wirklichkeit ab, aber je mehr ein Text es schafft eine eigene Wirklichkeit abzubilden, desto weniger wird der Leser Rückgriffe auf die Realität vornehmen. Für mich entsteht eine eigene Wirklichkeit in der Person der Großmutter (so brauche ich gar nicht zu wissen, warum sie ihren Mann betrogen hat, die Gründe erschließen sich aus dem Erzählten). Beim Erzähler aber funktioniert das nicht, weil er als Charakter nicht greifbar wird und so bleibt mir nichts anderes übrig, als mir aus meinem Erfahrungsschatz heraus einen fünfundsechzigjährigen Bauern vorzustellen. Und der redet eben nicht so.
Und wenn er denn so auf die Frauen in seinem Leben fixiert war, warum dann diese Distanz beim Erzählen?
Den Titel würde ich nicht ändern. Ich finde ihn gut und auch der Einstand ist doch wirklich passend. Was mir fehlt, ist das Erscheinen des Erzählers im Text.

Aber das ist nur meine persönliche Meinung. Du hast Recht, es wäre spannend zu erfahren, wie andere darüber denken.

Gruß

Sam

Quoth
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Beitragvon Quoth » 09.05.2010, 16:01

Hab nun doch eine Erweiterung geschrieben. Jetzt müsste manches deutlicher geworden sein. Vielen Dank fürs Lektorat, Sam!
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Sam

Beitragvon Sam » 09.05.2010, 16:51

Hallo Quoth,

zunächst: Als Lektorat verstehe ich meine Kommentare nicht. Ich möchte eigentlich keine Verbesserungsvorschläge machen, sondern einfach nur meinen Eindruck als Leser wiedergeben.

Die neue Version gefällt mir sehr gut. Nicht nur, weil jetzt der Vater auftaucht und man mehr über den Erzähler erfährt, sondern weil du durch das Ende der Geschichte einen ganz neuen Dreh gibst. Denn das sein Vater wirklich der biologische Vater ist, das hatte ich vorher so nicht verstanden. Hattest du das von Anfang an so im Sinn? Jedenfalls gibt das für mich der Geschichte einen völlig neuen Dreh. Die ganze Familiensituation bekommt etwas Absurdes, das mir aber gut gefällt und in das sich die Art, wie erzählt wird gut einfügt. Da passt auch die Beschreibung der Beerdigung. Eine gottgläubige Frau, die aber nicht an die Schwarzröcke glaubte (oder an das Kreuz). Von der nimmt auch an, dass sie sich über Konventionen hinwegsetzte und den eigenen Schwiegersohn (und sich selbst dabei vielleicht ebenfalls) "tröstete".
Und auch der Schlusssatz bekommt plötzlich eine ganz neue Bedeutung, bzw. schwingt da plötzlich etwas mit, was ich vorher nicht so wahr genommen habe.

Wie dem auch sei, ich lese hier jedenfalls jetzt eine andere Geschichte, die mir wesentlich besser gefällt.

Gruß

Sam

Renée Lomris

Beitragvon Renée Lomris » 09.05.2010, 20:59

Lieber Quoth,

Titel und Inhalt sprechen mich an, aber auch bei der zweiten Fassung bleiben für mich problematische Stellen. Ich schreib dir meine Fragen andersfarbig ein, und beschränke mich erst einmal auf den ersten Absatz:

Woher einer kommt, musst du wissen, sagte meine Großmutter. Sonst weißt du nicht, wer er ist. Eine Herkunft hat jeder. Und das ist auch gut so. Keiner ist ein unbeschriebenes Blatt. Und es sind die Vorfahren, die es beschreiben. Mit ihren Genen. Da friert mich ein wenig ... Bei Genen, Genetik denke ich automatisch an den NS-Staat mit Eugenik. Vor allem, wenn sie dann 'jedenfalls eine tolle Frau ist. Dies Wort benutzte meine Großmutter nicht. Ich habe es ihr in den Mund gelegt, weil sie es benutzt hätte, wenn sie es gekannt hätte. Ist ja auch egal. Sie war jedenfalls eine tolle Frau. Drei Töchter und zwei Söhne, beide im Krieg geblieben, Kurt vor Tobruk, Fritz bei Narvik. Ihr Mann erst nach zehn Jahren Gefangenschaft aus Russland zurück. Und immer der Meierhof, immerhin an die 240 Hektar, 90 Stück Milchvieh, 20 Schweine. Das alles mit den drei Töchtern, von denen nur eine verheiratet war. Das war meine Mutter. (einfach: "Meine Mutter") Aber auch ihr Mann war im Krieg und kam nur selten auf Urlaub. Er roch nach Leder und Zigaretten und ließ seinen ältesten Holger mit seiner Pistole spielen. Da war manchmal Not am Mann. IBeim Pistolenspielen? Ich war ja noch klein damals, aber Schweineeimer durfte ich schon schleppen. Mein Vater wurde verwundet, kam heim und konnte wieder mit anpacken. Aber nur mit einer Hand. Die andere lag bei Montecassino. Sogar Arbeitspferde hatten wir noch, die Lotte und den Jupp, einen riesigen Wallach. Naja, Treibstoff war teuer und kaum zu haben, da blieb das Dieselross in der Scheune. Die Erde aber wollte gepflügt sein. Dann stieg eben die Großmutter auf den Pflug. Omi durfte ich sie nicht nennen, das fand sie platt. „Ich bin nicht deine Omi!“ Sie war sehr eigen in vieler Hinsicht.


Im Grund geht es mir um die Wendung 'genetisch', die ich persönlich zu zweideutig finde. Der Rest ist nicht so wichtig, da würden kürzere Sätze, die als Vorbereitung auf die Entschlüsselung der komplexen Familienverhältnisse dienen könnten, das Leseverständnis fördern.

Diesen längeren Prosatext habe ich gern gelesen. Ich finde, dass es mehr davon geben sollte, und vor allem erhoffe ich mir eine kritischere Kommentierung solcher Texte. Deshalb habe ich meinerseits versucht, die mir fraglich erscheinenden Stellen aufzuzeigen.

Im nächsten Absatz gibt es übrigens noch einen Satz, den ich in diese Richtung umformulieren würde:

Fünf Kinder waren wir: Holger, der älteste, war zwei Jahre älter als ich, dann kam ich, ein Jahr und zwei Monate nach mir Ute, und Kurt junior, mit vier Jahren Abstand der jüngste. Dann war da noch Silke, ein halbes Jahr älter als ich. Darüber zerriss man sich bestimmt die Mäuler. Zu früh gekommen ...

Danach würde ich unnötige Informationen streichen. Oder mehr Information geben: zB: die Mutter las sie, und da las ich sie auch ... Vielleicht reicht das anderen Lesern, für mich ist das zu plötzlich, diese Eintracht im Lesegeschmack.

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Zur Diskussion über Wahrscheinlichkeit // Unwahrscheinlichkeit bin ich der Ansicht von Sam. Genau das ist das Problem bei (längeren) Prosatexten: der Aufbau von Kohärenz, eines Tons, der genug Zugkraft enthält. Das zu entwickeln kann man nur, wenn längere Texte auch aufmerksam genug gelesen werden, bzw. wenn es gelingt, sie weiter zu bearbeiten.

Dein Beitrag ist in dieser Hinsicht besonders interessant.

liebe Grüße

Renée

Quoth
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Beitragvon Quoth » 10.05.2010, 07:24

Hallo, Sam, ein guter Lektor gibt seine Eindrücke als Leser wider (und wartet mit Verbesserungsvorschlägen nur im äußersten Notfall auf) - und er ist ein guter Leser, das bist Du auch. Von daher ist der Begriff "Lektorat" für mich nur insofern unzutreffend, als Du nicht für einen Verlag arbeitest.
Es freut mich sehr, dass der erweiterte Text Dir besser gefällt. Der "neue Dreh", den die Geschichte am Schluss erhält, war in der ersten Version schon angelegt, aber nicht deutlich genug zum Ausdruck gebracht. Ich hatte (wie Nifl im Text des Monats) zu große Scheu, die "Unruhe" im Uhrwerk zu benennen.
Hallo, Renée, dass Du bei dem Wort "Gene" sofort an die Nazis denkst, überrascht mich. Ich denke dabei zuerst an Monsanto und die rasante (und bedrohliche) Entwicklung, die die Genetik in unseren Tagen nimmt, indem sie gerade die noch aktiven Landwirte (und dazu gehört mein Icherzähler) mit immer neuen genveränderten Produkten umwirbt. Die Verkürzung in "Meine Mutter" gefällt mir, weil sie den Stil des gesprochenen Texts unterstützt. Das Spiel mit der Pistole habe ich nachträglich eingefügt, und Du hast die "Flickenkante" geortet, da überleg ich mir noch einen besseren Übergang. Dass Holger der Älteste ist, muss ich nicht hier schon erklären, das tue ich dann ja 6 Zeilen später.
Mit herzlichem Dank für Befassung
Quoth
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immekeppel

Beitragvon immekeppel » 12.05.2010, 19:03

hallo quoth,

mir hat deine geschichte gefallen und die sprache empfand ich auch als einem älteren menschen in den mund gelegte nicht als flapsigen jugendjargon, wie z.b. in sams anmerkungen, ich denke, solche leute gibt es und überhaupt, welch vorurteil wird hier kolportiert *g*

ich sehe erzählungen dieser art als unterhaltung an, und ich fühlte mich gut unterhalten - wobei ich doch gedacht hab, dass der erzähler zwar der sohn der oma (nenn mich nicht omi), aber nicht der des opas ist...

ich glaube daher, dass es dir jetzt auch gar nicht darum ging, einen tieferen sinn in diesen text zu legen, sondern einfach eine geschichte zu erzählen - nach dem motto "so war das damals..."

lieben gruß
marion

Quoth
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Beitragvon Quoth » 13.05.2010, 20:26

Hallo, Immekeppel,
freut mich, Dich gut unterhalten zu haben, und auch, dass Du die Sprache meines Icherzählers nicht zu jugendlich findest. Daran könnte ich nämlich auch schwerlich etwas ändern, es müsste dann ein ganz neuer Text her.
Zwischen Unterhaltung und tieferem Sinn sehe ich nicht unbedingt einen Gegensatz. Sam hat uns in seinem "Tod der Großmutter" gerade vorgemacht, wie man beides miteinander verbinden kann, und meine Wunschvorstellung beim Schreiben geht in eine ganz ähnliche Richtung, hier z.B. Familie und Krieg in eine innere Beziehung zu bringen. Aber vielleicht ist mir das letztlich nicht gelungen.
Gruß Quoth
Barbarus hic ego sum, quia non intellegor ulli.


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