Gläserne Dialektik

Bereich für Erzähl- und Sachprosa, also etwa Kurzgeschichten, Erzählungen, Romankapitel, Essays, Kritiken, Artikel, Glossen, Kolumnen, Satiren, Phantastisches oder Fabeln
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Mnemosyne
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Beitragvon Mnemosyne » 22.04.2010, 00:08

Transparenz! wird überall gefordert.
Was sieht man denn noch, wenn man alles durchschaut?

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ferdi
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Beitragvon ferdi » 22.04.2010, 00:34

Hallo Merlin!

Also in meinen Ohren schreit diese Idee danach, durch Umwandlung in ein Distichon den Niederungen der Prosa zu entfliehen :pfeifen:

Überall ist der Ruf nach Transparenz zu vernehmen -
Aber was sieht man denn noch, wenn man erst alles durchschaut?


Hm, das ginge mit weniger müdem Kopf bestimmt noch eleganter. Sei's drum, beachte das einfach nicht; die Idee jedenfalls ist hübsch :-)

Ferdigruß!
Schäumend enthüpfte die Woge den schöngeglätteten Tannen. (Homer/Voß)

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Mnemosyne
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Beitragvon Mnemosyne » 22.04.2010, 09:07

Hallo Ferdi,
guter Hinweis. Ich werde beizeiten dazu mal kurzlyrisch dilettieren, habe aber zunächst noch gleiches mit "Im Garten" vor. Als Ansatz wird dein Vorschlag mir da sicherlich noch gute Dienste leisten.
Liebe Grüße
Merlin

Herby

Beitragvon Herby » 23.04.2010, 10:26

Hallo Merlin,

kann nicht auch der Wunsch oder die Hoffnung, etwas gerade NICHT zu sehen, hinter der Forderung nach Transparenz stehen? Zu sehen, dass man nichts sieht, kann mitunter auch erleichternd sein.

Interessantes Gedanken- und Wortspiel!

LG Herby

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Mnemosyne
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Beitragvon Mnemosyne » 23.04.2010, 12:30

Hallo Herby,
ja, eben auf dieses Spannungsfeld zwischen Aufdecken und Verbergen bzw. den Absichten dahinter wollte ich hinaus.
Der Wunsch, etwas zu durchschauen, ist nach meiner Erfahrung häufig davon getragen, damit "fertig zu werden" - und es damit nicht mehr betrachten zu müssen.
Liebe Grüße
Merlin

Quoth
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Beitragvon Quoth » 25.04.2010, 07:44

Hallo, Mnemosyne/Merlin,

mir fiel (angeregt von Ferdis Distichon) dazu ein:

Gläserne Wände soll haben das Hinterzimmer der Mächt'gen!
Sie erfüllten den Wunsch, treffen woanders sich jetzt.

Gruß
Quoth
Barbarus hic ego sum, quia non intellegor ulli.

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Ylvi
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Beitragvon Ylvi » 25.04.2010, 11:16

Hallo Merlin,

deine erste Zeile klingt für mich ein wenig nach "Politikerrede", das verleidet mir die Freude am Gedanken etwas. ;-)
In Ferdis Distichonvariante stehen mir Form und Klang zu sehr im Vordergrund und verdecken mir somit das Gläserne.
Am liebsten und spannendsten wäre mir diese Frage glaube ich ganz "nackt". :-)

Was sieht man noch, wenn man erst alles durchschaut.

Merlin hat geschrieben:Der Wunsch, etwas zu durchschauen, ist nach meiner Erfahrung häufig davon getragen, damit "fertig zu werden" - und es damit nicht mehr betrachten zu müssen.
Eine gute Beobachtung.

Liebe Grüße
Flora
Das ist das Schöne an der Sprache, dass ein Wort schöner und wahrer sein kann als das, was es beschreibt. (Meir Shalev)

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 25.04.2010, 22:04

Lieber Merlin,

Meine Vorstellungen, was den Stil angeht, gingen auch entweder in ferdis oder Floras Richtung (beide Enden würden mir gefallen), wobei ich deine jetzige Variante durchaus auch schon reizvoll finde, vielleicht aber noch eine Spur zu stark "aufgetreten". Die inhaltliche aufgezogene Tragweite gefällt mir jedenfalls philosophisch und gesellschaftsentwicklungstechnisch sehr - und löst sich darin aber nicht auf. Es nimmt diese ganze alte, uns ewig antreibende Rätsel in sich mit, was man unbedingt lösen möchte, was sich aber hoffentlich nie ganz ergeben wird (was ich aber auch glaube, die menschliche Wirklichkeitskonstruktion kann wahrscheinlich gar nicht anders, zum Glück). Ich finde im Übrigen, dass die Magie von Kunst ganz ähnlich funktioniert: dass man mit ihr etwas durschaut, was undurchschaubar ist und dass sie deshalb für den kultivierten Menschen so von Bedeutung ist.

liebe Grüße,
Lisa
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.

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Mnemosyne
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Beitragvon Mnemosyne » 26.04.2010, 21:21

Hallo Quoth,
das ist zwar nicht mehr der Gedanke, auf den ich hinaus wollte, aber eine durchaus schöne und treffende Pointe.

Liebe Flora,
durch die erste Zeile wollte ich der Frage bewußt einen gesellschaftlich-politischen Anklang geben. Ursprünglich kommt sie aus dem Abschnitt "Der Durchblick" aus "Der Zauberer und sein Gegenteil", wo sie auf das Weltverhältnis der Wissenschaften bezogen wird. "Nackt" wäre sie nach beiden Seiten offen (und nach vielen weiteren, man könnte sie z.B. auch auf das Verhältnis zu anderen Personen beziehen, die man auch verlöre, löste man sie völlig in psychologische Erklärungen ihres Verhaltens auf), dann wäre sie mir aber zu kurz, um sie noch als Text betrachten zu können. Außerdem steht es ja jedem frei, die erste Zeile zu ignorieren :-).

Hallo Lisa,
es ist immer wieder spannend, wie du meine Hintergedanken aus Texten wühlst, in denen ich sie gut versteckt glaubte - offenbar war ich ein brauchbarer Andeuter, aber ein lausiger Osterhase. Besonders, dass du die Magie erwähnst, fasziniert mich, denn ursprünglich ging die Frage aus einigen Gedanken zur rationalen und magischen Weltauffassung und ihrer Beziehung zur und Brauchbarkeit für die Konstruktion von Wirklichkeit und Gegenständlichkeit.
Deine Bemerkung zur Kunst kann ich allerdings nicht ganz nachvollziehen. Ich habe Kunst immer eher als Gegenbewegung zur Praxis des Forschers gesehen, die auf der Suche nach dem wahren Kern der Zwiebel Haut um Haut entfernt, um am Ende mit nichts mehr da zu stehen. Etwa so: Ich sehe sie als eine Weise des Stehenlassens, die ihren Gegenstand nimmt, wie er sich von sich aus zeigt, und für die deshalb das Verbergen ebenso wichtig ist wie das Aufdecken: Kunst zeigt ihren Gegenstand gerade dadurch an, dass sie ihm seine Intransparenz lässt. Kannst du mir deine Auffassung näher erläutern?

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fenestra
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Beitragvon fenestra » 27.04.2010, 22:53

Fein beobachtet, lieber Mnemosyne!

Mir gefiele am besten eine möglichst kurze Form:

Jeder schreit nach Transparenz - aber was sieht man noch, wenn man alles durchschaut?

Ist so etwas eigentlich ein Aphorismus?

lg
fenestra

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 28.04.2010, 10:44

Lieber Merlin,

ich freu mich immer, wenn du das Gefühl hattest, dass ich ein wenig gelesen habe, was du angelegt hast. Ich glaube allerdings, dass muss dich nicht überraschen, da du meines Erachtens oft die Kunst beherrscht, deinen Inhalt klar, aber nicht platt rüberzubringen.
Zu deiner Frage: Eigentlich wollte ich genau ausdrücken, was du gesagt hast:
Etwa so: Ich sehe sie als eine Weise des Stehenlassens, die ihren Gegenstand nimmt, wie er sich von sich aus zeigt, und für die deshalb das Verbergen ebenso wichtig ist wie das Aufdecken: Kunst zeigt ihren Gegenstand gerade dadurch an, dass sie ihm seine Intransparenz lässt.


Da ich die Konstrastrierung zur Wissenschaft (wobei dein Begriff des Forschers natürlich genial gewählt ist) nicht (mehr) mag, hab ich versucht mit der Bildlichkeit deines Gedankens zu beschreiben, aber das ist mir wohl nicht gelungen (bin ich jetzt eine gute Osterhäsin? :pfeifen: ). Ich wollte mit dem paradox gebrauchten Gegenpaar durchschauen und undurchschaubarkeit eigentlich nur ausdrücken, dass die Form der Erkenntnis"machung" nicht so stringent verläuft, wie es bei vielen anderen Prozessen scheint. Ich wollte auf keinen Fall sagen, dass man in der Kunst im Sinne eines Bloßlegens die "Dinge" durchschaut oder dass das Durschauen der Akt ist. Jedenfalls sehe ich die Bewegung ganz ganz ähnlich wie du, ich habe schon oft versucht, das formal anzuschauen (wie funktioniert dieses Prinzip eigentlich sprachlich?), aber da müsste man dann nichts anderes machen als das ... hast du da Ansätze?


Liebe fenestra,
was ein Aphorismus ist, darüber lässt sich - und das ist die Stärke der Gattung meiner Meinung nach - herrlich streiten, bei deiner Frage würde ich allerdings sofort mit einem dicken Ja antworten .-). Ich habe da mal ein Seminar zu gemacht und eine Arbeit drüber geschrieben, das ist wirklich herrlich, wie irre die Gattung einige Literaturwissenschaftler macht.

liebe Grüße,
Lisa
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