seichte Gefühle

Bereich für Erzähl- und Sachprosa, also etwa Kurzgeschichten, Erzählungen, Romankapitel, Essays, Kritiken, Artikel, Glossen, Kolumnen, Satiren, Phantastisches oder Fabeln
derSibirier

Beitragvon derSibirier » 02.04.2010, 14:53

Ich bin ein Soldat, aber es ist kein Krieg für mich da. Jeden Tag fingere ich mein Gewehr und warte auf den Krieg. Der Großvater in Uniform hängt an der Wand und mein Vater betet zu Sonnabend vor ihm, wie es die Kameraden tun. Aber wiewohl der Vater ohne allzu viel Unterscheidungen der Würde unter uns lebt, ist er doch etwas ganz anderes, als es der Großvater war. Der Vater war geflohen vor der Fahne. Die Mutter hat’s heimlich erzählt. Im letzten Krieg, als der Kaiser rief, grub er ein Loch hinterm Hühnerstall. Zwei auf zwei Meter soll’s gewesen sein. Acht Wochen wär er in dem Loch gelegen, der feige Hund. Als Kind war ich dabei, als eine Abteilung des Kaisers kam und nach ihm zu suchen begann. Tot sei er, hatte die Mutter zu ihnen gesagt, und ich hab’s geglaubt und die Soldaten gingen davon, nur einer blieb eine Zeit lang und hat mit der Mutter geschrien, oben im Zimmer. Und dann war der Krieg vorbei und der Vater auferstanden. Er hat gesagt, er wär an der Front gewesen, aber ich hab’s nicht mehr geglaubt, weil ich das Loch sah und den Haufen Knochen von den Hühnern.
Der Kaiser ist dann gestorben und ich bin größer geworden. Ich bin der Partei beigetreten; wir treffen uns jeden Abend und warten auf den Befehl, die Grenze zu überschreiten. Ich bin bereit, und wenn wir marschieren, dann werd ich den Vater zuvor noch erschießen, denn der ist wohl nichts wert, und ich brauch mich nicht mehr zu schämen.

Sie binden mich nackt auf den Stuhl aus Stacheldraht, zurren mich fest an der Bewegungslosigkeit ihrer Sünden. Über mir das Wasserfass mit Loch, bereit für meine Qualen.
Die Tropfen kommen gleichmäßig, fast devot gleichmäßig ruhig, und doch bestimmt. Bestimmt für mich, bestimmt, um mich zu treiben. Dorthin zu treiben, wo mein Denken nicht mehr sein wird, dorthin, wo der Wahnsinn mein Denken nicht mehr duldet.
Sie werden aggressiver, jeder Wassertropfen ein bisschen mehr. Sie heucheln keine Gleichmäßigkeit mehr vor, nur die Abstände bleiben konstant, lassen mich wissen, der Nächste schlägt gleich unerbittlich auf der rasierten, bloßgelegten Haut meines Kopfes ein.
Ich zähle sie nicht mehr, sie werden Bestandteile meiner Sinne. Sie masturbieren in meine Empfindungen, fressen sich in mein Bewusstsein. Nur sie sind da, es gibt für mich nichts anderes mehr, als ihren grausamen Rhythmus.
Der Widerhall des letzten Tropfens wird nicht wie bei den vorhergegangen in meinem Trommelfell absorbiert, er begleitet die Sekunden schwingend, in tickenden Explosionen der Nächstenliebe. Meine Augenlieder flattern. Im ersten Anflug des Wahnsinns presse ich sie zusammen, in der bloßen Hoffnung, dass die Anstrengung mich ihrem Rhythmus entreißen wird.
Umsonst, sie dulden nur sich selbst, lassen nichts anderes in meine Wahrnehmung dringen. Sie ejakulieren in mein Gehirn wie Ordensbrüder in die Scheiden ihre Schwestern. Scheren aus Stahl klammern die Hülle meiner denkenden Kloake. Ich bin das Schlachtvieh im Dienste ihres Gottes.
Meine Kopfhaut platzt, es regnet ordinäre Tanzschweine, sie fallen zu Boden, mutieren zu Extremitäten, kriechen an meinen nackten Beinen hoch und fressen meine Haut in Fetzen.
Spitze Rasierklingen fräsen ein Loch in meine Schädeldecke, kratzen zärtlich an meinen Nerven. Ich sehne mich nach den Fingernägeln an der Tafel in der Schule und wünsche mir, ich hätte damals tot an der Nabelschnur meiner Mutter gehangen.
Sie dringen ein. Hysterisches Lachen und mein Gehirn fließt aus den Augen und Ohren vorbei.

Von verzerrter, geistiger Erbärmlichkeit gequält, schleuderte er in hysterischer Wut die Farbpalette gegen die Wand. Mit ätzendem Speichel spuckte er in das Bild seiner Genialität. Verkrampfte Finger kratzten die Leinwand herunter und knallten das triefende Farbgeschwulst hinterher. Das Hemd von der Brust gerissen, in nackten Splittern einer Furie, schnitt er sich die linke Brustwarze ab, nahm sie in den Mund und fraß sie hinunter. Mit stumpfer Klinge bohrte er in der Wunde und schrie des Wahnsinns: "Verbluten sollst du!“

Nifl
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Beitragvon Nifl » 02.04.2010, 21:39

Huhu Sibirius Black,
der Text gliedert sich in drei Teile, der erste klassisch narrativ, der zweite gewalttätig (verbal wie inhaltlich) und ein dritter, auflösender, nein gipfelnder, manifestierender. Teil eins fügt sich mir nicht recht. Dadurch wirkt der Text beliebig gekoppelt (inhaltlich wie stilistisch).
Jeden Tag fingere ich mein Gewehr

„an meinem“?
und mein Vater betet zu Sonnabend vor ihm

Verstehe ich nicht.
ist er doch etwas ganz anderes, als es der Großvater war.

Jemand ganz anderer
Die Mutter hat’s heimlich …

Passt nicht recht zu: (mich hat es jedenfalls verwirrt. Woher wusste er nun?)
aber ich hab’s nicht mehr geglaubt, weil ich das Loch sah und den Haufen Knochen von den Hühnern.

nur einer blieb eine Zeit lang und hat mit der Mutter geschrien, oben im Zimmer.

Ist mir zu „tell“ und erschließt sich durch nichts aus dem bisher Erzählten.
wir treffen uns jeden Abend und warten auf den Befehl, die Grenze zu überschreiten.

Feierabendsoldaten?
Die folgenden Abschnitte driften ins Abstrakte. Ich vermute, es handelt sich um einen Fiebertraum. Vieles wird wirr, unlogisch, unverständlich (für mich). Der Protag wird gefoltert, mit Wassertropfen. Ich habe keine Ahnung, ob es diese Folter tatsächlich gibt? Kann mir nicht vorstellen, dass es so schlimm ist und der Text hilft mir nicht dabei es „nachzuspüren“. Ich werde statt mit Tropfen mit „gewichtig wollenden“ Allgemeinplätzen bombardiert;
zurren mich fest an der Bewegungslosigkeit ihrer Sünden.

bewegungslose Sünden?
devote Tropfen?
tickende Explosionen der Nächstenliebe?
Sie ejakulieren in mein Gehirn wie Ordensbrüder in die Scheiden ihre Schwestern.

?
ordinäre Tanzschweine?
----dann wird es richtig unappetitlich. Viel weniger wäre für mich mehr. Das ist Vorschlaghammer-Drastik, die durch ihre gnadenlose Überzeichnung nicht mehr wirkt.
Aber man muss dem Text zugute halten, dass er es bis zum Schluss eine Steigerung schafft (bei der ich schon am Anfang aussteige).
Das Ende mit dem wahnsinnigen, autoaggressiven Maler, würde ich weniger überzogen richtig gut finden.
LG
Nifl
Zuletzt geändert von Nifl am 03.04.2010, 09:54, insgesamt 1-mal geändert.
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Beitragvon Zakkinen » 02.04.2010, 22:55

Hallo,

ich tue mich schwer mit diesem Beitrag, und auch schwer mit einer qualifizierten Kritik, gerade weil der Text sehr aggressiv daherkommt. Will es aber trotzdem mal versuchen, und hoffe, Du fühlst Dich nicht allzu sehr auf den Schlips getreten.

Drei unverbundene Texte. Unwillkürlich sucht man den Zusammenhang. Zwischen eins und zwei klappt das noch vielleicht. Zum dritten komme ich nicht mehr mit. Gibt es einen?

Ich habe nichts gegen harte und grausame Texte. Hier aber wäre vielleicht weniger mehr, etwas mehr Subtilität vielleicht. Manches Wort wirkt, wie auf Schockwirkung hin gewählt. Warum "masturbieren in meine Empfindungen"? Gibt kein stimmiges Bild. Was sagt mir das Bild der Ordensbrüder und ihrer Schwestern? Nun gut, ich muss ja auch nicht mit auf die Reise. Aber ich denke, ein wenig mehr, sagen wir, Stimmigkeit der Bilder täte dem Text gut. Wahrscheinlich ist es Korinthenkackerei, aber Rasierklingen sind für mich nicht spitz, sondern bestenfalls scharf.

Bedauerlich finde ich einige sprachliche Patzer. Dadurch wirkt der Text sehr schnell hingerotzt, was Angesichts der Überzeichnung der Bilder bei mir schnell zu einer abschätzigen Einstellung führt. Ich habe gerade nicht die Zeit für eine vollständige Überarbeitung, aber: "Jeden Tag fingere ich mein Gewehr " muss anders, "befingere" ginge, oder "fingere ich an meinem Gewehr herum". "betet zu Sonnabend vor ihm" müsste "betet zum Sonnabend vor ihm", wenn überhaupt. "ist er doch etwas ganz anderes" - "ist er doch ein ganz anderer (Mensch)". "Acht Wochen wär er in dem Loch gelegen" - "Acht Wochen habe er in dem Loch gelegen".
In diesem Absatz wechseln die Vergangenheitsformen manchmal etwas unmotiviert. Das kann daran liegen, dass der sprechende Soldat es nicht besser versteht. Dafür drückt er sich aber an anderen Stellen wieder recht gewählt aus. Absicht?

"wie Ordensbrüder in die Scheiden ihre Schwestern" - "wie Ordensbrüder in die Scheiden ihrer Schwestern". "Scheren aus Stahl klammern die Hülle" - "Scheren aus Stahl umklammern die Hülle"

Was sind die nackten Splitter einer Furie? Warum ist die Klinge erst scharf genug, um die Brustwarze abzutrennen, und dann stump?

Ich bin gespannt, was die anderen sagen.

Grüße,
Henkki

Renée Lomris

Beitragvon Renée Lomris » 09.04.2010, 18:46

Lieber Sibirier,

Trotz einiger Resistenz gegen deine sakral-masochistische Georges Bataille-Manier, die sich im obigen und (zwei?) anderen deiner Texte ausdrückt, bleibe ich von deinem Schreib(stil)en überzeugt. Vielleicht musst auch du deine Texte dieser Tortur unterziehen, der sich selbstverliebte Schreiberlinge (zu denen gehöre auch ich) so ungern aussetzen. Das scheinbar Gelungene durch scheinbar Minderwertiges solange ersetzen bis eine sowohl ästhetische, als auch inhaltliche und "moralische" Kohärenz entsteht.

Ich interessiere mich für deine Texte und hoffe, noch mehr lesen zu können. Ich verstehe noch nicht, wo deine eigentliche Schreibebene liegt. Der obige Text scheint mir eine Protestschrift zu sein. Ein "sibiirisches" Manifest, mit Wasserstacheln auf eine dir zu weiche Schreibhaut genagelt ... ;))

Vielleicht wäre es gut, du würdest dich zu diesem Text selbst äußern.

Liebe Grüße von
Renée

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Beitragvon Zakkinen » 21.04.2010, 18:42

Schade, dass hier nichts mehr kam. Ich war gespannt auf die Diskussion, wollte gerne lernen, was ich mal wieder alles übersehen habe.

Gruß,
Henrik


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