Laryngitis vulgaris

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Thomas Milser
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Beitragvon Thomas Milser » 18.06.2009, 10:58

18/VI/2009

Laryngitis vulgaris

- eine Schluckbeschwerde -



[align=justify]Und plötzlich konnte ich nicht mehr schlucken, und der Kehlkopf schmerzte wie verätzt vom Bittersalz, es steckte fest im Hals wie vollgeschissene Windeln in einem Klosyphon, wie Rohrkrepierer, ein Pfropfen aus nicht geweinten Tränen und Teer und dem Tran der Tage, verquirlt mit Kinderkreischen und Kötergekläff, dem sopranen Jammern der Mofamotörchen und dem bedrohlichen Wummern der Dieselaggregate, und unten vom Hafen mischt sich das obertonige Kreischen der Kräne dazu wie ein zischender verkalkter Tauchsieder mit Textilkabel, der alles mühsam aufbrodelt und miteinander verschmilzt.
Früher hatten wir das mit doppeltgebranntem Lösemittel gespült, mit süßrauchigem Unterdruck beseitigt, es über den Bettrand gefickt, doch jetzt wird das chronisch, und Leverkusen hat längst das Handtuch geschmissen, und der Gilb hockt in den Laken und auf den Bronchien wie ein alles erstickender Ölfilm, und unsere Scheuleder sind ausgefranst an den Rändern wie Flaggen, die zu lange im harten Wind standen, und geben den Blick frei auf die schmutziggrauen Bandenwerbungen, endlos langgestreckt wie Ozeane oder Bergketten, die hinter den Fluchtpunkten überlaufen in stillen Kaskaden und über den Weltenrand fallen, und in uns ersticken die Lieder und Farben, und die Schlagschnüre baumeln schlaff an grindigen Kalkwänden, mit denen wir uns mit kobaltblauer Kreide die Schönheit an den Himmel gezeichnet hatten und das Singen der Vögel.
Von den Türmen herunter liefern sich Bronzeglocken und Bartmuezzins ein Gefecht wie in einer Bärbel-Schäfer-Show, und BILD faltet Platzkärtchen für Sperrsitz, Rang und Empore, aus Schweinedarm, mit Jesu' Blut gedruckt, und die richtige Endziffer gewinnt einen Sodasprudler für Brackwasser, und sofafette Weiber giggeln chipsfressend und brausesaufend und diddlemausend dazu und machen sich wildbrombeerne Strähnchen in die Dummheit, und keifen so laut im Treppenhaus herum oder an offenen Fenstern, dass niemand mehr hört, wie sich das Donnern und Grollen erhebt im Nadir.
Nur eine leichte Kehlkopfentzündung, sagte die Ärztin, doch wir wussten beide, dass es etwas anderes ist.[/align]
Zuletzt geändert von Thomas Milser am 19.06.2009, 14:56, insgesamt 2-mal geändert.
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Mucki
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Beitragvon Mucki » 19.06.2009, 00:22

Hi Tom,

du hast hier ein so wortgeballtes Weltbild des LIs beschrieben, dass die "Schluckbeschwerde" zu einem dicken Kloß im Hals wird. Geradezu unerträglich, im wahrsten Sinne des Wortes erdrückend, wie es auch für das LI ist. Ich empfinde hier kein Adjektiv als zu viel. Ein starkes Stück!

Und wie kriech ich jetzt den Kloß aussem Hals?

krächzende Grüße
Mucki

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Thomas Milser
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Beitragvon Thomas Milser » 19.06.2009, 12:07

Viel Kamille, wenig rauchen ...

Und süßen Honig, damits rutscht ...

Zu sagen, ich freute mich über den Kloß in deinem Hals wäre sicher nicht die feine Art ...
Tut mir Leid :o)

Tom
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noel
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Beitragvon noel » 19.06.2009, 17:35

dito
es gefällt GUT GEBELLt
gut geflicktschustert
gut gemixt
& sellbst die vielen bilder formieren sich zu einer collage,
die man nicht so leicht runter schlucken kann
NOEL = Eine Dosis knapp unterhalb der Toxizität, ohne erkennbare Nebenwirkung (NOEL - no observable effect level).

Wir sind alle Meister/innen der Selektion und der konstruktiven Hoffnung, die man allgemein die WAHRHEIT nennt ©noel

Max

Beitragvon Max » 06.07.2009, 22:11

Lieber Tom,

ich habe ja schon ein paar Sätze persönlich gebracht.

Interessant finde ich, dass Satz 1 und 3 sehr stark mit Alliterationen arbeiten:

aus nicht geweinten Tränen und Teer und dem Tran der Tage


Kinderkreischen und Kötergekläff,

Tauchsieder mit Textilkabel,

Bronzeglocken und Bartmuezzins ein Gefecht wie in einer Bärbel-Schäfer-Show, und BILD


um nur ein paar zu nennen - Satz 2 aber nicht. Interessanterweise fällt es mir auch schwerer diesem Satz zu folgen als den anderen.

Satz 4 finde ich einen feinen Schluss.

Liebe Grüße
Max

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Thomas Milser
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Beitragvon Thomas Milser » 07.07.2009, 12:49

Hallo noel,

besten Dank, und 'gut gebellt' triffts wohl inhaltlich wie phonetisch, wenn man das Heisere ins Kalkül zieht ...

Hallo Max,

ich bin froh, dass du schreibst, die Sätze arbeiteten mit Alliterationen, denn ich war's nicht :o) Jedenfalls nicht bewusst. Reine Rückenmarkreaktion, reißt Ru?

Danke fürs Lesen,
Tom
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Renée Lomris

Beitragvon Renée Lomris » 12.07.2009, 07:52

Hallo Tom,

Mich beeindruckt die starke innere Kohärenz deiner Texte. Was in "Als ich ein Wolf war" in schnellerem Rhythmus skandiert wird, breitet sich hier fast elegisch aus, obwohl der Grundton eindeutig derselbe ist. Dein Bennscher Umgang mit dem Wort gefällt mir außerordentlich. Fehlt nur Fürst Kraft. ;) .
Im Französischen gibt es einen schönen Ausdruck dafür, dass man einiges "runter"schlucken muss, um den Durchbruch zu schaffen. "Avaler des couleuvres" Blindschleichen herunterschlucken.
Der erste Satz beschreibt dieses Runterschlucken beschissener Realität.
Der zweite Satz erinnert an vergangene, unwirksam gewordene Versuche, dieses Runterschlucken durch Flüssigkeitszugabe zu lindern, an Versuche, sich an den Hängen der Hoffnung, der Schönheit festzukrallen.
Der dritte zieht Bilanz aus dem sich aufdrängenden Präsens. Dabei fiel mir der "Nadir" auf, ein Begriff, der mir nicht geläufig ist. Das Wort ist sehr schön, es passt als Waffe im Wortgefecht und - weshalb du es bestimmt verwendet hast - es beschreibt den "Fußpunkt", dh das Gegenteil des Zenith, was man dann wohl als "Tiefpunkt" bezeichnen darf.
Mit anderen Worten beschreibst du eine Art "Weltschnupfen", Weltheiserkeit, eine Variante des Weltschmerzes. Eben weder vulgär noch larmoyant.

Ich beneide dich um deine souveräne Art mit Sprachregistern umzugehen. Ich bewundere es.

liebe Grüße
Renée

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Thomas Milser
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Beitragvon Thomas Milser » 12.07.2009, 15:29

Hallo Renée,

deine Besprechung ist ebenso liebenswürdig wie erfreulich. :o)

Erfreulich deshalb, weil ich seit dem 'wolf' irgendwie auf die Prosaschiene zurückkomme, aber eben nicht auf die humoristisch-überzeichnende - wie es früher meine Art war - sondern mich am (ernsten) Erzählenden/Beschreibenden versuche. Es ist zugegebenermaßen noch ein Probieren, ein Suchen, und irgendwann möchte ich auch mal einen langen Text (ein ganzes Buch gar?) mit so nem Zeugs zusammenbekommen.

Was mich sehr freut ist, dass du im Text innere Kohärenz findest, womit mein Springen zwischen den (Gedanken-)Bildern und (Sprach-)Ebenen wohl doch noch nachvollziehbar erscheint. Es sind oftmals "Fluss"-Texte, und ich überlege in den Momenten des Fließenlassens nicht, ob ein Sprung zum Vorhergehenden passt, sondern mache ihn einfach, weil ich für den Moment in einer Assoziationskette bin, die Kontrolle nicht erlaubt, und sich nicht um (vordergründige) Logik scheren darf. Sowas kann natürlich schnell in die Hose gehen, wenn man möchte, dass das Leserle einem auch folgen kann. Aber über diese Intention des Schreibens gehen die Meinungen ja bekanntlich weit auseinander. Eigentlich sollte man sich als Autor nicht ... (tuts dann aber doch).

Jedenfalls ein ermutigender Kommentar, für den ich herzlich danke!

Tom.
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