Auf die Nieren

Bereich für Erzähl- und Sachprosa, also etwa Kurzgeschichten, Erzählungen, Romankapitel, Essays, Kritiken, Artikel, Glossen, Kolumnen, Satiren, Phantastisches oder Fabeln
Louisa

Beitragvon Louisa » 07.04.2009, 15:37

Hallöchen!

Ich möchte noch anmerken:

Diese Geschichte ist viel länger geworden, als ich zuerst beabsichtigte. Aber dann dachte ich es wäre hegelianischer ;-) "das Ganze" in all seinen verschiedenen Episoden und deren Gemeinsamkeiten darzustellen.

Wenn es euch aber zu lang sein sollte, kann ich auch wieder die unteren Abschnitte herausnehmen und euch alles in Häppchen servieren, damit es leichter zu diskutieren ist.

Vorschläge erwünscht :blumen: !



1. Die erste Visitenkarte:

Einen Tag bevor wir zur Leipziger Buchmesse fahren wollten überlegte ich mir, dass es sehr professionell wirken könnte, wenn man hinter einem dieser Stände die Zeitung verkauft und nebenbei den Verlegern vom Nachbarstand seine Visitenkarte in die Hand drückt. Wenn jemand nämlich eine Visitenkarte hat, dann ist er auch irgendetwas in der Welt, was er sich unter seinen Namen drucken kann.
Der Erfolg beginnt (mit) und bedingt also Visitenkarten. Ich druckte mir gelbe Kärtchen mit meinem Namen, einem Vogelbild und der kursiven Bemerkung „Autorin für Lyrik und Prosa“ aus und verteilte diese fleißig auf der Messe.

Dabei war es wichtig immer äußerst cool zu wirken. Sobald mir jemand sein Kärtchen gab, bemerkte ich immer nur beiläufig und beinahe etwas genervt: „Ich kann ihnen auch meine Karte geben.“ – Während ich innerlich jubelte: „Du hast auch ´ne Karte! Du hast ´ne Karte!“

Niemand lachte über den Vogel auf meinem Kärtchen, was mich dazu bewog zu glauben, dass die Übergabe einer Visitenkarte eine äußerst ernste Angelegenheit war – das man Visitenkarten sozusagen betrachten musste wie kleine Kunstwerke. Jedes Symbol, jeder Farbklecks darauf musste als interpretierbares Symbol zu verstehen sein.

Nachdem ich auf denen der Messe nachfolgenden After-Show-Partys noch ungefähr 20 Kärtchen verteilt und 20 Kärtchen erhalten hatte machten wir uns mit schweren Schädeln wieder auf den Heimweg.


2. Die zweite Visitenkarte


Bald sollte unsere Frauenlesung sein. Das weibliche Dichter-Quartett bestand aus einer Philosophie-Dozentin meiner Uni, mit der ich bevor ich ihren Beruf kannte besoffen geknutscht hatte, einer Psychologin, einer junge alleinerziehende Mutter und mir.

Wir saßen um einen eckigen Holztisch und tunkten unsere Sushi-Quader in die Schüsselchen mit der Sojasoße. Ich hatte das noch nie mit Stäbchen versucht, weshalb ich aussah wie ein Schwein.

„Also, wie wäre es, wenn wir assoziativ lesen? Der eine Dichter, der den Preis gewonnen hat, der hat neulich zu mir gesagt: Hey, wieso lest ihr nicht assoziativ?“

Wir alle sahen die junge Mutter ausdruckslos an. Das war nun der 4. Vorschlag zur Lesung innerhalb einer Woche. Andauernd wurde das Konzept umgeworfen.

„Und was ist mit den Anzügen meines Vaters? Ziehen wir die dann nicht mehr an?“

„Na, das können wir uns ja überlegen.“ antwortete sie mir.

„Also, ich will euch sagen, wieso ich finde, dass wir assoziativ lesen sollten: Es ist nämlich so, dass –

„Leute, ich bin total fertig.“ meinte die Psychologin.

„Ja?“ fragte die Dozentin.

„Also, Mädels, es ist so, dass dieses Konzept, was wir jetzt haben, dieses Biographie vorlesen, jeder liest seine Texte, alles in einer Reihenfolge….das ist ja ein sehr männliches Konzept.“

„Oh Gott, jetzt geht das wieder los.“ dachte ich.

„Mm…“ meinte die Psychologin.

„Aber dein Vorschlag, der kommt doch auch von einem Mann! Also ist deine assoziative Lesung genauso männlich!“ konterte die Dozentin. Wir grinsten uns an.

„Mm…“

„Leute, ich bin total fertig.“ Meinte die Psychologin.

„Also…ich finde wir sollten es so lassen wie es ist. Die Anzüge, die Dia-Show…das ist doch schon einmal ´ne ganze Menge. Normalerweise gibt es überhaupt keine Show-Elemente bei so einer Lesung.“ Versuchte ich eine weitere zwei-stündige Diskussion über Männlichkeit und Weiblichkeit der Dinge abzuwenden.

„Mm…naja, wir können uns ja noch einmal E-Mails schreiben, falls jemand noch die Wahnsinnsidee hat.“

„Also…ich möchte es auch so lassen wie es ist. Ich bin außerdem jetzt schon total fertig.“ Meinte die Psychologin.

„Ok.“ Meinte die Dozentin und mir viel ein Sushi-Quader aus beträchtlicher Höhe wieder aus dem Stäbchengriff zurück in die Soße, sodass es den Tisch bespritzte.

„Wollen wir vielleicht ein paar von den Flyern auslegen, hier irgendwo, in einer Bar?“ versuchte ich abzulenken.

„Ja, wieso nicht. Mmm….wo wollen wir denn hingehen?“

„Also, Leute, ich bin total fertig. Ich gehe jetzt nach Hause.“ Meinte die Psychologin.

„Ok! Erhol dich gut!“

„Mm…wie wäre es mit der Odessa-Bar?“

„Ach, die ist doch langweilig.“

„Und das White Trash?“

„Da darf man nicht rauchen.“ bemerkte ich. Wir schmunzelten uns an, weil jeder wusste welcher Vorschlag als der ewig letzte Vorschlag in dieser Frage kommen wird.

„Na, also dann los, gehen wir ins Kaffee Burger.“

Im Kaffee Burger angekommen schlenderten wir durch den Tanzbereich in Richtung Raucherlounge. Dabei kamen wir an einem jungen und einem älteren Mann vorbei. Der ältere war eine untypische Erscheinung für diesen Laden, weil man sonst immer nur relativ platte Aufreißer und Spinner dort findet. Er hatte einen Stoppelbart und eine Brille mit kreisrunden braunen Gläsern. Ich lächelte ihn verzückt an, er lächelte zurück und schon waren wir im Nebenraum angekommen.

Während es an der Bar weiter um die Tatsache ging, dass viele Dinge männlich und zu wenig Dinge weiblich wären, bestellte ich meinen dritten Sekt an diesem Abend, was bereits zu meinem Plan gehörte mir irgendwann so viel Mut angetrunken zu haben, damit ich herübergehen könnte und meine Visitenkarte ein weiteres Mal ihren Siegeszug gehen zu lassen.

Die junge Mutter schmiss ihren Cocktail um, sodass mein Rock einige Flecken abbekam.

„Oh! Das macht ja nichts, ich gehe dann mal zur Toilette!“
Ich sprang vom Barhocker herunter und ignorierte das Rufen hinter mir, dass es ja noch eine Toilette direkt in diesem Raum gäbe und schlenderte wieder an meinem neuen Schwarm vorbei. Wieder lächelte ich ihn verzückt an und wieder lächelte er zurück.

Ich wusch die Flecken ab und stolzierte wieder an den beiden vorbei. Diesmal lächelte ich verzückt und nickte ihm zu. Er nippte an seinem Bier und lächelte wieder zurück.

„Depp! Der könnte ja auch mal was sagen!“ dachte ich und mein zweiter Gedanke war: „Sexy, dass er gar nichts sagt. Einfach sexy.“

Zurück bei den Frauen angekommen war mein Platz bereits von einem jungen Mann eingenommen, der sich angeregt mit der dichtenden Mutter unterhielt.

„Ein Ex-Lover von ihr.“ Flüsterte meine Dozentin.

„Achso. Mm… wollen wir nicht mal tanzen gehen?“

„Ok.“

Ich bestellte mir noch einen Sekt und wir torkelten wieder zurück in den Tanzraum. Zwei Meter vor meinem Helden des Abends blieben wir stehen und wippten rhythmisch auf und ab möglichst ohne unsere Getränke zu verschütten.

Ich lächelte wieder verzückt, er lächelte wieder zurück. Da ich nach zehn Minuten immer noch nicht den Mut gefasst hatte etwas zu sagen, beschloss ich zum Geldautomaten zu gehen, um mir weiteren Sektkonsum zu ermöglichen.

Auf dem Rückweg traf ich meinen Freund Holger. Holger ist ein riesiger, schlaksiger und schwuler Komponist, der immer zu viel trinkt und deshalb manchmal durch den ganzen Laden brüllt, aber alle Menschen behandelt wie Superstars, in dem er überaus exzentrisch bei jedem neuen Gast die Arme ausbreitet und dessen Namen begeistert ausruft. Alle finden ihn cool, besonders er selbst. Nur wenn er zu viel getrunken hat ist er anstrengend, aber ich finde es immer ehrlich und weltverzweifelt, was er dann herumschreit.

„Baby! Was machst du denn hier? Wir haben uns ja ewig nicht gesehen!“

„Ich hole Geld! Ich bin hier mit zwei Frauen!“

„Na, dann hol mal schön dein Geld! Bis gleich! Wir sind im Raucherraum!“

Zehn Minuten später, nachdem ich wieder verzückt gelächelt und er zurück gelächelt hatte saß ich mit der Dozentin, einer schönen älteren Frau, einem Dicken und Holger in einer Sofaecke und bestellte den ca. 100. Sekt. Ich beobachtete wie meine Dozentin sich zuerst einen Wodka herunterschüttete und anschließend einen kräftigen Schluck Bier nahm. Irgendwo fand ich das alles zu diesem Zeitpunkt schon wieder vollkommen wahnsinnig. Ich dachte an den Abend, als meine ehemaligen Kunstlehrerinnen dort waren und überlegte, dass sie eigentlich noch fehlen würden.

„Puh, Anna…ich bin schon ziemlich betrunken! Haha!“

„Ja, ich auch.“

„Habe ich dir schon einmal von meiner Hausarbeit über Hegel erzählt?“

„Nein!“

„Dann tue ich das jetzt. Also! Hegel sagt, dass der absolute Geist derjenige sei, der sich etwas anderes wird und dieses andere….das bedeutet im Grunde, dass…“

Ich referierte etwa eine halbe Stunde am Stück über Hegels Philosophie und fühlte mich danach noch viel betrunkener.

„Naja, im Grunde…war das auch nur ein Mann.“ Wir lachten.

„Ich hab hier mal ´nen Typ kennengelernt, der hat mir zwei Stunden den Hof gemacht und schließlich auf der Tanzfläche ist er auf die Knie gegangen und hat mir seine Liebe gestanden. Der hat gesagt er sei Künstler, weißt du?“

„Mm-mm.“

„Und dann hat er sein Hosenbein hochgekrempelt und hatte einen Knieschoner an! Einen Knieschoner!“

„Bescheuert.“

„Ja.“

„Die Männer müssen endlich mal kapieren, dass weniger tatsächlich mehr ist. Ich finde es immer am Besten, wenn einer gar nichts sagt. Rein gar nichts.“

„Wirklich?“

„Ja.“ Dachte ich versonnen und erhob mich zu meiner Mission.

„Wo willst du denn hin?“

„Bin gleich wieder da.“

Als ich wieder im Tanzraum angekommen war stand der große Mann mit der runden Brille und dem Stoppelbart alleine am selben Fleck wie zuvor. Ich stellte mich daneben, lächelte wieder verzückt, er lächelte wieder zurück und ich entgegnete: „Hallöchen!“

„Hallöchen.“ gab er schmunzelnd zur Antwort.

„Ich heiße Isabella, da hinten sitzt die Anna, der Holger und zwei
Menschen die ich nicht kenne. Anna ist meine Dozentin und Holger ist Komponist. Möchtest du dich auch dahin setzen?“

„Ja.“

„Dann folge mir!“

Wir wanderten wieder zurück in den Raucherraum.

„Hallo! Ich habe jemand mitgebracht. Das hier ist Anna, das ist Holger und das ist?“

„Erwin.“

„Oh! Erwin ist ein süßer Name! Ich habe da so eine kleine Figur, die heißt auch Erwin! Haha…“

„Ach, ja?“

„Ja! Also, dann setzen wir uns mal.“

Wir saßen dicht gedrängt aneinander und stießen mit unseren Gläsern an.

„Und watt treibt dich hier her?“ fragte er berlinerisch.

„Wir haben bald so eine Lesung. Wir wollten hier eigentlich nur Werbezettel verteilen. Guck!“

Er guckte und steckte sich den Zettel ein.

„Und was machst du hier?“

„Ick bin mit eenem Freund hier. Ick war schon 3 Jahre nich mehr hier.“

„Aha. Habe ich dir schon Anna vorgestellt, sie kann mich an der Uni unterrichten!“

„Ach, ja, in welchem Fach denn?“

„Philosophie.“

„Mm-mm. Und an welcher Uni?“

„Freie Universität.“

„Ach, ja.“

„Hast du auch mal was studiert?“ erkundigte ich mich und grinste.

„Ja. Ick kann dir auch ´n Kärtchen geben.“

„Oh! Ich habe auch ein Kärtchen! Einen Moment!“

Wir kramten beide nach unseren Kärtchen und überreichten sie uns zeitgleich.

Während er las: „Autorin für Lyrik und Prosa“, las ich „Professor für Philosophie – Freie Universität Berlin“ –

Danach glotzten wir uns beide an wie Kleinwagen und ich fing an zu lachen.

„Hättest ja watt bei mir wählen können letztes Semester.“

„Mm…ich weiß ja gar nicht, ob du das gut machst.“

„Haha, ditt stimmt natürlich. Ick habe meinen Schwerpunkt auf Hegel.“

„Ach! Über Hegel habe ich gerade gesprochen! Haha, dann war es der
Geist von Hegel der uns zusammengeführt hat!“

„Ganz bestimmt.“

„Hegel, Hegel, Hegel!“ meinte ich beschwörend. Wir lachten.

Anna wandte sich uns zu.

„Kennt ihr euch denn nicht?“

„Nein. Watt hast du denn für ein Seminar?“

„Ich habe etwas über Aristoteles gemacht. Aristoteles hat ja gesagt, dass…“

Ich hörte nach einer Weile auf beiden zuzuhören und legte meine Hand abwechselnd auf das Knie von Professor Erwin und auf den Stil meines Sektglases. Als ich wieder zuhörte verlief die Diskussion schon etwas lauter:

„Du bist doch ein Huhn! Ditt is doch spinnig die janzen Zitate abzukloppen! Watt is denn ditt eigene dabei? Natürlich hat der ditt jesagt! Aber watt folgern wir denn heute daraus?“

„Also, ich finde nicht, dass es spinnig ist – Denn du kannst dir ja auch mal überlegen, dass später Foucault – „

„Ach! Foucault is doch nun eher ein exzellenter Literat, als ein Philosoph!“

Ich nippte weiter an meinem Sekt und lächelte in mich hinein. Ich hatte überhaupt keine Ahnung mehr, wenn es nicht gerade zufällig um Hegel ging. Da meinte Anna etwas leiser:

„Also! Die Isabella hier hat mir gerade sehr schön den Gottesbegriff von Hegel erläutert!“

Ich wandte mich grinsend zu Professor Erwin und bemerkte: „Siehst du, was ich alles kann…“

Er lachte und der Streit der beiden ging weiter. Irgendwann brachte mich das zum Kichern, weil ich überhaupt nicht verstand was eigentlich der Gegenstand dieser Diskussion war. Ich verstand nur das Anna ein spinnendes Huhn und Erwin ebenfalls ein spinnender Schnösel waren.
„Hallo! Seid ihr noch ganz bei Sinnen? Ihr streitet jetzt schon seit einer halben Stunde über irgendwelchen Blödsinn! Niemand unterhält sich hier mit mir! Ich weiß gar nicht wovon ihr die ganze Zeit redet!“

Beide verfielen in ein schmunzelndes Schweigen und der junge Begleiter kam an den Tisch herangetreten.

„Ach, hier bist du! Ich suche dich schon die ganze Zeit!“

„Ja, setz dich doch dazu.“

Der junge Mann setzte sich neben Anna und ich legte meine Hand wieder auf das Knie von Professor Erwin. Dieser lächelte mich etwas verlegen an. Daraufhin gab ich ihm einen Kuss auf die Wange.

„Kennst du auch Frau Professor Weinberg?“

„Haha, die alte Hafennutte!“

„Huch!“ wir lachten über Frau Weinberg, die wirklich aussah wie eine Hafennutte und mir fiel auf, dass Professor Erwins Augen alle Farben auf einmal hatten.

„Sag mal, hast du bunte Augen?“

„Ja. Da hat sich der liebe Jott gedacht wir verrühren den ganzen Mist und diese Restpampe kriegt der Erwin ab.“

Ich lachte. Mir fiel auf, dass dieser Mann unglaublich vulgär war, aber trotzdem so viel wusste – Er war so wie ich mir immer Bertolt Brecht vorgestellt habe, also entschloss ich mich zu meinem letzten „Vor-dem-ersten-Kuss-Test“:

„Und…magst du auch Max Frisch?“ stellte ich meine alles entscheidende Standardfrage, denn alle, die Max Frisch nicht mögen sind als potentielle Partner durchgefallen.

„Ja, sehr! Ick habe eigentlich alles von dem jelesen. Du etwa ooch?“

„Jawohl.“ gab ich zur Antwort und schon knutschten wir.

Zwei Stunden später torkelten wir in die große hohe Wohnung von Professor Erwin. Der lange Flur war übersät von Bücherregalen.

„Also, hihi…ich kriege schon einen Orgasmus, wenn ich die ganzen Bücher hier sehe!“ verkündete ich und stolperte ins Arbeitszimmer, in welchem an der kahlen Wand ein vergilbtes Zeitungsbild von Max Frisch hing.

„Uh! Max Frisch! Ein Bild an der Wand! Ich habe auch so ein kleines Bild von ihm an der Wand! Juhu! Und ich habe auch Muscheln in den Bücherregalen! Und ich habe auch ein Bild von Paul Klee!“

„Sensationell!“

„Du sagst andauernd sensationell!“

„Sensationell!“

„Sensationell!“

„Vielleicht erregen mich nicht nur die Bücherregale.“

„Ach, ja?“

-

Am nächsten Morgen blinzelte ich vorsichtig in die Sonne und freute mich wieder über den Frühling. Neben mir schlief der nackte Professor Erwin.
„Ich habe Durst.“ war mein erster Satz.

Wir lagen den ganzen Tag im Bett und kraulten uns wie zwei Löwen nach der Jagd.

Zwei Wochen später hatten wir dieses Szenario so oft wiederholt, dass ich eine Blasenentzündung bekam. Da der Plan der „Desensibilisierung“ dieser Krankheit nicht aufging bekam ich auch noch Nierenschmerzen.


3. Die dritte Visitenkarte

In der Innenstadt angekommen wollte ich das Literaturlabor unserer „neuen Gruppe 47“ wie ich sie nenne, putzen, aber die Nierenschmerzen hielten mich davon ab, sodass ich ein Taxi nehmen musste und mich in die Charité fahren ließ.

„Und was studieren sie?“ erkundigte sich der allzu gesprächige Taxifahrer.

„Französisch und Philosophie.“

„Ach, ja….und was kann man damit später machen?“

„Taxi fahren.“ Bemerkte ich lächelnd. Der Fahrer lachte.

„Das stimmt. Ich habe Soziologie studiert.“

„Sagen sie, hatten sie schon mal Nierenschmerzen?“

Der Taxifahrer hatte Nierenschmerzen und er erzählte mir eine endlose Geschichte darüber, die mir auf Grund der bösen Worte wie
„Blutabnahme“ oder „Punktion“ ziemliche Angst einjagte.

„Ich fahre sie am Besten zur Urologie. Da wird man ihnen helfen. Tut es denn sehr weh?“

„Ja, ich denke es ist eine Nierenentzündung. Ich hatte vorher eine Blasenentzündung.“

„Ja, dann wird es das sein. Sie sind ja ein sehr freundlicher Mensch. Oft fährt man auch Idioten. Aber sie, sie sind ja wirklich reizend.“

Wir parkten vor dem Urologie-Gebäude.

„Ich finde es ja sehr schön, dass sie sich solche geisteswissenschaftlichen Fächer ausgesucht haben. Heutzutage ist ja gar nichts mehr sicher.“

„Ja, das stimmt. Ich will sie ja nicht unterbrechen, aber ich habe wirklich Schmerzen. Ich gehe jetzt mal lieber da rein.“

„Ja, natürlich. Also, ich fand es wirklich schön sie kennenzulernen. Man kann sich so angenehm mit ihnen unterhalten.“

„Ja, ich werde dann aber jetzt gehen.“

„Natürlich, verzeihen sie. Einen Moment, ich werde ihnen noch ein Kärtchen von mir geben. Einen Moment, ich suche es…“

Er kramte nach seinem Kärtchen. Ich hielt mir den Rücken. Er strich einige Namen und Nummern darauf durch und notierte seine neue Nummer.

„Da ist auch der Name meines Bruders drauf, deshalb muss ich es kurz ändern. Ich und mein Bruder, wir haben nämlich auch ein Limousinen-Chauffeur-Service. Also ich stehe immer zu ihren Diensten, wenn sie also mal wieder ein Taxi oder eine Limousine…“

„Ich muss jetzt wirklich gehen.“ Knurrte ich schon ziemlich genervt. Nahm sein Kärtchen und humpelte in das Krankenhaus.


4. Vierte Visitenkarte

Im Krankenhaus angekommen schickte man mich in ein anderes Gebäude. Dort schickte man mich zur Rettungsstelle. Ich dachte ich würde bald verrückt werden und fluchte schon leise vor mich hin.

In der Rettungsstelle angekommen, meldete ich mich bei einer Schwester an. Ihr Computer bestätigte die These des „gläsernen Patienten“, da er wusste, dass ich mit neun Jahren in einem ganz anderen Krankenhaus wegen einer (simulierten) Blinddarmreizung war.

„Also, wir brauchen eine Urinprobe, dann folgen sie den roten Füßen auf dem Boden, dann kommen sie zur Behandlung, dort wird man ihnen helfen.“

Ich folgte etwa zehn Meter den roten Füßen auf dem Boden und überlegte, dass man diese sicher dort aufgemalt hatte, weil man unter Schmerzen gar nicht mehr rechts von links unterscheiden kann.

Neben mir saßen etwa 20 wartende Menschen. Sie hatten bereits Infusionszugänge im Unterarm. Manche saßen im Rollstuhl. Andere sahen ziemlich gesund aus. Wieder andere hatten Verbände oder wurden von ihren Begleitern gestützt. Eine junge attraktive Frau hielt sich ebenfalls die Niere. Ich lächelte. Es kommt also doch vom Vögeln, dachte ich.
Hinter der Tür sahen die Menschen noch verwundeter aus. Man nahm meinen Becher und die Papiere entgegen und entließ mich zu den anderen in den Warteraum.

Als mir nach einer Stunde anfingen die Tränen zu kommen begann ich mich damit abzulenken mir alle anderen Leute im Warteraum anzuschauen und mir zu überlegen, was sie hier her geführt hatte. Da war ein junges, zierliches, aber schon relativ verlebt aussehendes Mädchen mit einem Zugang im Unterarm, dass beständig auf und ab lief und sich ärgerte. Es gab einen kleinen lächelnden Mann mit Schnurrbart, ein Pärchen, dass so perfekt aussah, als käme es aus einem Katalog, eine kleine dicke Frau mit sehr langen gepflegten hellbraunen Haaren, ein junger tätowierter „Gangster-Junge“ meiner Generation mit seinem kleinen rundlichen Vater, ein arabischer Mann, der ein Handtuch um den Kopf gewickelt hatte, eine alte Dame und schließlich eine Mutter mit ihrer hübschen, dünnen Tochter im Rollstuhl, da sie keine Beine mehr hatte.
Das verärgerte junge Mädchen setzte sich neben mich.

„Ich setz´ mich mal dazu. Ich werde hier noch verrückt. Ich warte schon seit halb elf, also seit 5 Stunden.“

„Wirklich? Haben sie dich noch gar nicht behandelt?“ fragte ich und hielt mir die Niere.

„Sie haben nur Blut abgenommen und diesen Zugang gelegt.“

„Und was hast du, wenn ich fragen darf?“

Sie schwieg einen Moment lang.
„Ich habe eine Fehlgeburt, aber es ist alles ziemlich verworren, also…
ich… wusste ja gar nicht, dass ich schwanger war… und jetzt sagen sie: Verdacht auf Fehlgeburt, aber ich bin nicht schwanger!“

„Du bist nicht schwanger, hast aber ´ne Fehlgeburt?“

„So ähnlich haben sie das gesagt, ja.“

„Mm.“

Eine dicke Krankenschwester mit einem gelben und einem grünen Hausschuh watschelte an uns vorbei.

"In New-York ist übrigens mal eine Frau in so einer Rettungsstelle gestorben, weil sie so lange warten musste."

Wir grinsten erschrocken.

„Und was hast du?“

„Ich nehme an eine Nierenentzündung.“

„Oh, scheiße… Also, ich gehe mal eine rauchen. Wenn sie „Maurer“ aufrufen, holst du mich dann?“

„Ok.“

Also saß ich wieder alleine da und wunderte mich, dass man als Schwangere, die nicht schwanger ist, aber eine Fehlgeburt haben soll fleißig weiterraucht.

Endlich wurde ich aufgerufen. Eine kleine, verkniffene Ärztin mit schulterlangem Haar stellte sich hastig vor und tastete mich ab:

„Tut das weh?“

„Ja.“

„Und das?“

„Ja.“

„Wieso sind sie denn hier her gekommen und nicht zu ihrem Hausarzt?“
Ich sah sie entgeistert an.

„Ich hatte Schmerzen. Mein Hausarzt ist eine Stunde von hier entfernt. Da habe ich ein Taxi genommen und bin hier her gefahren. Das ist ja ein Krankenhaus oder?“

Sie antwortete nicht und notierte etwas.
„Ich denke es ist eine Nierenentzündung. Ich hatte eine Blasenentzündung vorher, die ich nicht richtig behandelt habe. Haben sie meine Urinprobe schon analysiert? Da könnte man es ja sicher erkennen.“
„Nein. Wir nehmen jetzt erst einmal Blut ab.“

Und schon war sie wieder verschwunden. Mir wurde das Blut von einem Pfleger abgezogen und in kleinen Fläschchen aufbewahrt.

Ich dachte: „Und alles nur wegen dem Rumgeficke.“

Ich wiederholte noch einmal meine These der Nierenentzündung, fand aber keine Beachtung und durfte mich wieder in den Wartesaal setzen.
Der kleine Mann mit dem Schnurrbart hatte mir einen Platz freigehalten.

„Dankeschön.“

„Kein Problem. Was hast du denn?“

„Nierenschmerzen.“

„Ach, ja! Ich habe es schon seit dem neunten Lebensjahr mit der Niere!“
Er erzählte mir eine weitere Nierengeschichte.

„Aber heute bin ich wegen einem Knoten im Arm da. Ich habe das der Mutti gesagt und die Mutti hat sofort gemeint: Geh zum Arzt, Junge!
Vielleicht ist es Krebs! Und wenn Mutti sagt, dass ich zum Arzt gehen soll, dann gehe ich zum Arzt! Mutti ist jetzt 85.“

„Aha.“ Ich hielt mir die Niere.

„Sitzen sie schon lange hier?“

„Naja, zwei Stunden werde ich schon hier sein. Ich hätte nicht gedacht, dass das so lange dauert. Ich verstehe nicht wieso die Leute nicht auf die jeweilige Station verwiesen werden, wenn man ungefähr weiß, was sie haben. Oder wieso alle in diesen ewigen Einzelschritten behandelt werden zwischen denen Stunden vergehen. Das ist doch irre. Die Leute hier haben doch alle Schmerzen… Naja, außerdem bin ich noch verabredet. Das schaffe ich nie mehr.“

„Das ist schade, ja! Ich bin ja alleine zu Hause. Manchmal besuche ich die Mutti, die wohnt in der Nähe. Aber es gibt niemand, der auf mich wartet! Ist das nicht toll? Ich bin niemand verpflichtet! Ich muss niemand Rechenschaft ablegen! Ich bin nur für mich selbst verantwortlich! Das hat mir schon immer gefallen! Mit wem sind sie denn verabredet?“

„Meinem Freund.“

„Aha! Ja, das ist doch schön! Ich war ja auch einmal verheiratet, aber das ist schon lange her! Ich bin mit einem Zirkus mitgezogen als Messerwerfer! Da habe ich eine Zigeunerin kennengelernt und habe sie geheiratet. Die Hochzeit können sie sich gar nicht vorstellen, so schön war das! Wollen sie mal ein Foto von ihr sehen?“

„Ok.“

Er kramte einige zerknitterte Fotos aus seinem grünen Rucksack, als gerade zwei Polizistinnen und ein Fernsehteam von Sat.1 hereinkamen. Der eine Kameramann erklärte zur Polizistin: „So, sie müssen jetzt hier ganz locker vorbeigehen, an der Anmeldung… So als ob sie jemand aus der Rettungsstelle abholen müssten, ja? Also, sie gehen dort zum Schalter und sagen: „Guten Tag, Polizei. Ist hier ein Herr Kreiner auf Station?“

Die schlanke, blonde Polizistin nickte wie ein dressierter Affe und ging zum Schalter. Der Kameramann hinterher. Während ich mir die Niere hielt und das ganze konsterniert beobachtete redete der kleine Mann mit dem Schnurrbart weiter auf mich ein.

„Naja, und da waren wir ja DAS Gesprächsthema im Dorf! Eine Schwester schöner als die andere, wissen sie! Mein Vater dachte das ist eine Schauspielerin und ich will ihn veräppeln, haha! Aber die Mutti hat nur gesagt: Früher meinte man die Zigeuner holen die Wäsche rein und du heiratest eine!“

„Mm.“

„Sehen sie mal das Foto!“

Ich sah mir das Foto an. Der kleine Mann hatte auf darauf noch keinen Schnurrbart, dafür einen blauen 70er-Jahre-Anzug und volleres Haar. Die junge gebräunte Frau neben ihm war wirklich wunderschön. Sie hatte langes schwarzes Haar und ein glückliches Lächeln. Das nächste Foto zeigte ihre Tochter, die mit einem Kleidchen und einer Haube exakt so aussah wie die russischen Matrjoschka-Püppchen.

„Und jetzt hier zur Rettungsstelle gehen. Langsam, aber zielsicher. Und dann sagen sie: Guten Tag, Polizei. Wir wollen einen Herrn Kreiner von ihrer Station abholen.“

„Dann haben wir uns getrennt und ich habe ihre Schwester geheiratet! Da habe ich immer zur Mutti gesagt: Mutti, pass auf, wenn jetzt die neue kommt, das ist nicht die Marita, das ist die Gabriela! Das du die nicht verwechselst, haha!“

„Guten Tag, Polizei. Wir wollen einen Herrn Kreiner von ihrer Station abholen.“

„Ja, sehr gut…und jetzt gehen sie zur Tür herein in die Notaufnahme.“
Ich hielt mir die Niere.

„Das schöne ist, dass ich niemand Rechenschaft ablegen muss! Ich bin nur für mich alleine verantwortlich – und wenn ich dann doch mal ein schönes Mädel sehe, so wie sie mit dem hübschen Stufenrock! Dann kann ich sie anlächeln ohne ein schlechtes Gewissen zu haben! Wissen sie, was bei einer kranken Niere hilft? Die Mutti hat immer gesagt: Feuchte Wärme braucht die Niere! Feuchte Wärme! Sie brauchen eine Wärmflasche und ein nasses Handtuch, das in warmes Wasser getränkt wurde. Das binden sie sich um den Rücken und legen sich hin! Naja, wenn sie das nicht alleine hinkriegen, kann ich ihnen auch mal so einen Nierenwickel machen. Warten sie mal, hier ist meine Karte!“

Er kramte ein Kärtchen heraus und überreichte es mir. Darauf stand: „George Clooney – Ich bin Bauarbeiter, ich repariere alles – auch gebrochene Herzen“ und eine Telefonnummer. Ich steckte sie in meine Geldbörse über meine eigene, Erwins und die Taxi-Limousinen-Karte.

Als ich gerade anmerken wollte, dass sich mein Herz bester Gesundheit erfreut, dass die Niere aber mein Problem sei – wurde ein Bett mit einer bewusstlosen, gelb angelaufenen Frau in Richtung Notaufnahme geschoben. Allerdings kam das Bett nicht vorbei, weil dort ja schon das Kamerateam und die zwei Polizistinnen standen.

„Gehen sie mal da weg, bitte!“

„Einen Moment noch, noch kur die Aufnahme von der Seite! Ja! Wir sind sofort fertig!“

Ich hielt mir das Gesicht in den Händen und wiederholte drei Mal: „Mein Gott, ist das alles irre. Mein Gott, ist das alles irre. Mein Gott, …“

Um nicht weiter mit „George Clooney“ plaudern zu müssen, wandte ich mich zur anderen Seite, wo die kleine rundliche Frau mit den langen Haaren saß.

„Und was haben sie?“ fragte ich.

„Die wissen es nicht. Erst war ich beim Hautarzt, dann beim
Rheumatologen und jetzt warte ich auf den Spezialisten. Die wissen aber nicht, ob er noch kommt. Seit vier Stunden warte ich.“

„Oh! Wissen sie, was ich nicht verstehe: Die Leute werden ja anständig bezahlt hier, aber die eine Ärztin war eben sowas von unfreundlich zu mir. Als wäre es ein Vergehen von mir, dass ich überhaupt hier bin! Dabei wusste ich nicht mehr wie ich laufen soll!“

„Ja, ich verstehe es auch nicht.“

Das Mädchen mit der Fehlgeburt kam zurück und rief durch den gesamten Raum: „Wenn ich jetzt nicht behandelt werde, gehe ich nach Hause!“

Alle sahen sie an, als wäre wären wir die Armee und sie die heilige Johanna von Orléans.

Sie betätigte den Türöffner und stolzierte in die Notaufnahme. Da sie nicht wiederkam, schlossen wir stumm daraus, dass sie behandelt wurde.

„Eine hat es geschafft.“ schien in den Gesichtern der anderen zu stehen.

„Und wieso werden wir nicht einfach auf die verschiedenen Stationen verwiesen? Wieso bekomme ich keine Schmerzmittel? Ich könnte hier verrückt werden!“ erzählte ich meiner Nachbarin.

„Auf den Stationen sind keine Ärzte.“

„Wieso sind da keine Ärzte, das ist doch ein Krankenhaus!“

Weitere Stunden vergingen. Das Fernsehteam ging wieder von dannen und schließlich stand die ältere Dame auf und marschierte ebenfalls in die Notaufnahme. Jeder sah ihr nach.

Nach einigen Minuten hörte man ein großes Geschrei aus dem allseits begehrten Behandlungsraum und wieder einige Minuten später erschienen zwei weitere Polizisten, die die ältere Dame unter erneutem Geschrei und wilden Beschimpfungen wieder abführten und in einen Krankenwagen setzten.

Alle betrachteten sich schweigend- Man war nicht einmal mehr überrascht. Jeder hatte den anderen in diesem Raum jetzt schon seit sieben Stunden gesehen, was eine ganz eigenartige Stimmung bewirkt hatte. Zudem schien ein jeder durch die Schmerzen und das Warten dem Wahnsinn einige Schritte näher gerückt zu sein. Es hätte wahrscheinlich auch keinen mehr gewundert, wenn einfach jemand die Ärzte als Geiseln genommen hätte, damit wir behandelt würden. Unsere Rebellionsversuche schienen jedenfalls teilweise von Erfolg gekrönt zu werden. Ich sah wieder die Frau mit den langen Haaren an.

„Vielleicht werden wir hier nur behandelt, wenn wir durchdrehen und rumschreien.“

„Ja, haha…“

Ein Bett mit einer kreideweißen alten Frau wurde herausgefahren. Ich fragte mich, ob das wohl eine Leiche gewesen war und lehnte mich vorsichtig wieder an den Stuhl zurück.

„Wollen sie mal meinen besten Klingelton hören, einen Moment, ich packe das Handy aus!“

Der kleine Mann neben mir kramte nach seinem Handy und spielte mir seinen „besten Klingelton“ vor.

„Von Jamba habe ich das. Kennen sie Jamba?“

„Ich habe davon gehört.“ Dachte ich und es schauderte mich schon beim Gedanken an diese Ausgeburt der Werbehölle.

Die Krankenschwester mit dem gelben und dem grünen Schuh watschelte wieder an uns vorbei.

Der Klingelton schallte durch den gesamten Wartebereich. Alle drehten sich zu uns herum und sahen noch schmerzverzerrter aus als vorher.
„Frau Vogel, Herr Wiese bitte zum Ultraschall!“

„Mein Gott.“ Dachte ich. Der männliche Part des perfekten Katalog-Pärchens erhob sich und humpelte mit mir zusammen dem Pfleger hinterher.

„Und was haben sie?“ fragte ich schon ganz in Trance.

„Verdacht auf Thrombose und sie?“

„Die Nieren tun mir weh.“

„Das ist blöd. Das hatte ich auch mal. Also bei mir war es so, dass sie zuerst…“

Er erzählte seine Nierengeschichte.

Der Doktor erklärte mir, dass es nur eine leichte Entzündung sei. Antibiotika würden helfen.

„Das sage ich schon seit ich hier herein gekommen bin.“ Meinte ich und lächelte in der Hoffnung jetzt endlich mit meinem Rezept gehen zu dürfen.
Ich spazierte wie meine Vorgängerinnen, immer den roten Füßen folgend, in die Notaufnahme und erkundigte mich: „Hallo, ich warte auf mein Rezept. Ich komme vom Ultraschall.“

„Ok. Es wird in fünf Minuten fertig sein. Setzen sie sich noch einen Moment in den Wartebereich.“

Der kleine Mann winkte mich zu sich herbei.

„Na, alles überstanden?“

„Ja. Wo ist denn die Frau mit den langen Haaren?“

„Die ist nach Hause gegangen. Die haben ihr gesagt, dass der Doktor doch nicht mehr kommt. Sie hat für morgen einen Termin bekommen.“

„Das heißt sie hat die ganze Zeit umsonst hier gesessen? Das ist ja irre!“

„Naja… das ist schade… Das ist besonders schade, wenn man zu Hause jemand hat, der auf einen wartet. Ich habe ja zu Hause niemand, dem ich verpflichtet wäre. Ich könnte auch schon lange gehen. Meine Untersuchungen sind ja abgeschlossen.“

„WAS?“

„Ja. Es ist doch kein Krebs. Nur eine bakterielle Infektion. Nichts Bösartiges.“

„Ok… aber wieso sitzen sie dann noch hier?“

„Naja, zu Hause wartet ja niemand auf mich… und sie sind doch eine nette Gesellschaft. Die Zeit ist mir bei unserer Unterhaltung wie im Flug vergangen. Jetzt leiste ich ihnen noch etwas Gesellschaft.“

„Also, wegen mir müssen sie wirklich nicht bleiben. Das ist nicht nötig. Ich freue mich, wenn ich hier rauskomme.“

„Mm… naja, aber vielleicht können wir uns noch einmal wiedersehen. Hier zum Beispiel. Wir können uns hier ja noch einmal wiedetreffen.“

„Hier?“

„Ja, haha…wieso denn nicht?“

„Also…Entschuldigung, aber ich bin total am Ende mit den Nerven. Ich gehe jetzt da herein und frage nach meinem Rezept.“

„Na, fein. Ich sitze hier.“

„Sie könne ruhig gehen. Bitte gehen sie doch!“

„Ok, wenn sie meinen. Ich möchte nur nicht unhöflich sein. Ich habe auch etwas Hunger.“

Ich trat wieder hinter den kleinen Schalter in der Notaufnahme. Ich hatte den Eindruck, dass zumindest die Krankenschwester mit dem gelben und dem grünen Schuh Mitleid mit mir hatte.

„Entschuldigen sie, ich will sie nicht belästigen, aber die fünf Minuten sind seit zwanzig Minuten um und ich möchte einfach nur mein Rezept haben und gehen.“

Die Schwester wollte gerade Luft holen, da kam die kleine verkniffene Ärztin aus der Tür und baute sich vor mir auf: „Frau Vogel! Sie werden es nicht glauben, aber der Bericht vom Ultraschall ist noch nicht hier!“

„Ok, ich kann ihnen sagen wie der Bericht lautet: Leichte Nierenentzündung, nichts gravierendes. Antibiotika würde helfen.“

„Gut, aber das muss ich noch einmal von ihm persönlich erfahren. Ich rufe ihn sofort an.“

„Ok. Ich warte hier.“

Ich setzte mich langsam auf einen Stuhl und seufzte. Da kam die andere junge Frau herein, die sich ebenfalls die Niere hielt.

„Entschuldigung, kann ich ein Schmerzmittel haben?“

„Einen Moment, bitte.“

Sie setzte sich ebenfalls langsam neben mich.

„Hast du auch Nierenschmerzen?“ fragte ich etwas fröhlicher.

„Ja!“ Sie strahlte mich an und kam so nah an mein Gesicht heran, dass ich den Eindruck hatte sie wollte mich küssen. Das erschreckte mich derart, dass ich wieder aufstand und nach der Ärztin sah. Eigentlich rege ich mich gegenüber Fremden etwa zwei Mal im Jahr hörbar auf, aber dies war wieder eine dieser Situationen.

„Entschuldigen sie, wenn sie es heute nicht mehr schaffen, schicken sie mir die Unterlagen am Besten mit der Post zu, wenn das schneller geht!“

Die kleine Ärztin kam wieder hervor, baute sich erneut vor mir auf und erklärte: „Also, ich habe mit dem Ultraschall-Doktor gesprochen. Es handelt sich um eine leichte Nierenentzündung, die man mit Antibiotika behandeln kann. Gehen sie also am Besten gleich Morgen zu ihrem Hausarzt und lassen sich das Rezept geben.“

Das war der Moment, wo ich beinahe ohnmächtig geworden wäre.

„Hören sie, ich habe Schmerzen. Ich werde jetzt nicht die ganze Nacht warten und mich morgen zwei Stunden auf den Weg machen um so ein dämliches Rezept zu holen. Das ist ja wohl kein Ding für sie so ein Rezept auszustellen.“

„Es handelt sich um eine leichte Nierenentzündung, da können wir sie nicht stationär aufnehmen.“

„Ich glaube ich werde hier verrückt. Ich sage ihnen seit 7 Stunden, dass es eine Nierenentzündung ist und jetzt will ich, nachdem sie mir das bestätigt haben, nicht stationär aufgenommen werden, ich will mein Rezept haben! Wo sind wir eigentlich hier?“

Ich hörte mich selbst wie in einem Film sprechen, als ob das alles gar nicht real wäre. Die Frau wirkte auch nur noch wie eine Karikatur auf mich mit ihrerm braunen Mittelscheitel, der schwarzen Brille und den zusammengekniffenen Augen. Plötzlich merkte ich aber wie sie unsicher wurde und auf einmal alles, was sie zuvor gesagt hatte, in sich zusammensackte. Sie verschwand wieder wortlos und kam nach einigen Sekunden wieder.

„Also, ich habe jetzt mit einem Urologen gesprochen, der mir bestätigt hat, dass sie sofort Antibiotika brauchen.“

Ich schüttelte nur noch den Kopf.

„Allerdings kann ich ihnen kein Rezept dafür geben. Hier sind zwei Tabletten.“

Sie streckte mir die Tabletten entgegen. Ich schüttelte immer noch den Kopf.

„Wieso können sie mir kein Rezept ausstellen, sie kennen ja den Namen des Medikaments, sie kennen meine Daten, sie kennen meine Krankheit!“

„Weil sie nicht privat versichert sind.“

„Ich bin privat versichert!“ rief ich so laut, dass es wahrscheinlich auch die Komapatienten mitbekamen. Gleichzeitig stellte ich mir aber auch vor wie es wäre, wenn mein Vater kein höherer Beamter, sondern Hartz-IV-Empfänger und ich Kassenpatientin wäre – Dann müsste man also in diesem Land nach all diesen Stunden wieder nach Hause fahren ohne das man vorher darüber informiert gewesen wäre.

„Oh.“ Meinte die Ärztin.

Sie gab mir das Rezept-„Kärtchen“ und ich rettete mich zu Professor Erwin, um der Desensibilisierung eine letzte Chance zu geben. Denn ich glaube, dass das immer noch eher hilft als ein Besuch im Krankenhaus.

Sam

Beitragvon Sam » 08.04.2009, 10:10

Hallo Louisa,

Eindrücke nach zweimaligem Lesen:

1.
Stark überarbeitungswürdig. RS Fehler auch (die mache ich selber zu Hauf, deswegen habe ich kein Recht darüber zu mäkeln), aber viele unnötige Wortwiederholungen und ungelenke Sätze. Zwei Beispiele:
Wenn jemand nämlich eine Visitenkarte hat, dann ist er auch irgendetwas in der Welt, was er sich unter seinen Namen drucken kann.

Während es an der Bar weiter um die Tatsache ging, dass viele Dinge männlich und zu wenig Dinge weiblich wären, bestellte ich meinen dritten Sekt an diesem Abend, was bereits zu meinem Plan gehörte mir irgendwann so viel Mut angetrunken zu haben, damit ich herübergehen könnte und meine Visitenkarte ein weiteres Mal ihren Siegeszug gehen zu lassen.


2.
Nicht zu lang, aber doch langweilig. Ich hatte große Mühe, am Text zu bleiben. Vermutlich liegt es daran, dass alle auftretenden Personen irgendwie nur Sprechblasen sind, die über flüchtig gezeichnete Skizzen geklebt wurden. Da gibt es allerdings große Unterschiede im Text.
Ein roter Faden ist zu erkennen, aber die Richtung, die am Anfang eingeschlagen wird verliert sich in uninteressantes Geplauder. Und auch die Erzählerin ist in ihrer Naivität und ihrem spätpubertären Getue auf diese lange Strecke ermüdent. Daran ändert auch Hegel nichts.

3.
Gut gefällt mir die letzte Visitenkarte. Sie steht auch sehr isoliert da. Ein nicht uninteressanter Blick auf unser Gesundheitssystem. Auch die erste Karte hat mir durchaus gefallen, aber wie schon gesagt, das hier angeschnittene Thema verläuft sich dann.

Fazit: Für mich zu viel auf einmal (nicht die Länge an sich), zu sehr in sich, d.h. in der Erzählerin verdreht, nichts geht wirklich in die Tiefe, sondern verläuft sich in Oberflächlichkeiten. Abgesehn von der vierten Visitenkarte. Aber auch diese ist beschrieben nur als eine der kleinen Kataströphchen, die so über die Erzählerin hereinbrechen. Und erzeugt bei mir als Leser trotz der Ernsthaftigkeit der dort beschriebenen Situation doch nicht viel mehr, als nur ein Achselzucken. Was ich in diesem Fall nicht auf mangelnde Sensibilität meinerseits zurückführe, sondern auf die Art, wie mir hier erzählt worden ist.
Die sprachlichen Mängel des Textes verhageln einem schließlich in Gänze den Lesegenuss.


Liebe Grüße

Sam

Louisa

Beitragvon Louisa » 08.04.2009, 10:53

Danke Sam,

Also meinst du konkret, dass ich die Sätze einfacher gestalten soll und die Personen genauer zeichnen soll?

Bzw. Soll ich einen Teil einfach herausnehmen?

War ja auch nur ein Versuch... Mm... so naiv fand ich das gar nicht... Aber den Vorwurf werde ich mir wohl noch mit 100 Jahren anhören.

Ich hoffe ja, dass, wenn man die Teile kürzt, dass es dann etwas flockiger wird - Weil ja eigentlich doch jede Geschichte mit der anderen zu tun hat und jede Visitenkarte zur nächsten führt. Ich dachte das wäre ganz nett.

Bei dem Mann mit der "George Clooney"-Karte habe ich absichtlich kaum etwas kommentiert von dem was er tut oder sagt, weil er von sich aus, wie ich finde, schon sehr viel Spannendes über seine Persönlichkeit verrät.

Kürzen, Vereinfachen, Charakterisieren, ja?

Danke und feinen Tag!
l

PS: Naja, du kritisierst, dass der TExt nicht "ernsthaftig" ist. Aber kritisiert das nicht auch der Text selbst? - Es ist ja auch wieder ziemlich tragik-komisch, wenn zwischen den Sterbenden und Kreischenden Fernsehteams und Kaffee-Kränzchen-Besucher sitzen. Ich weiß nicht, was man zu so einer Absurdität der Welt noch "ernsthaftes" kommentieren muss. Für mich ist das sehr ernst und sehr lächerlich zu gleich, aber ich wollte nicht all meine GEdanken dazu angeben.

Sam

Beitragvon Sam » 08.04.2009, 11:31

Hallo Louisa,

ich sagte ja, dass der letzte Teil der stärkste ist. Es geht mir auch nicht um "Ernsthaftigkeit". Aber ich versuche einen Text immer als Ganzes zu lesen. Man nimmt automatisch einen bestimmten Blickwinkel ein, namlich den, der einem vom Erzähler vorgebeben wird. Darin fühlt man sich entweder wohl (oder stimmt damit überein) oder nicht.
Das "Naiv" ist nicht persönlich gegen dich gemeint, sondern gegen die Erzählerin. Ich arbeite nun lange genug im Vertrieb, um zu wissen, dass Visitenkarten das am meisten verschwendete Stück Papier sind. Einen Wert erhalten sie nur, wenn der darauf gedruckte Namen schon vor dem Empfangen für denjenigen, der die Karte bekommt eine gewisse Wichtigkeit hat.
Die Aussage "Der Erfolg beginnt mit Visitenkarten" ist also schon naiv. Und damit der Haken, an dem sich die Erzählperspektive aufhängt.
Sicher, vielleicht wolltest du den Unsinn der Visitenkartenverteilerei aufzeigen, aber dafür verzweigst du zu sehr. Und auch dieses Ausschweifige ist mir zu naiv und unkonzentriert. Ich verlier das Interesse und die Freunde an dem Blickwinkel, aus dem mir die Geschichte präsentiert wird. Und dann schwimmen eben so gute Sachen wie das Fernsehteam oder der George Clooney an mir vorbei.

Aber das ist ja nur e i n e Meinung. Möglicherweise sehen das andere Leser wieder ganz anders.

Liebe Grüße

Sam

Louisa

Beitragvon Louisa » 08.04.2009, 12:14

Nein, du hast ja Recht!

Aber zum Beispiel diese zitierte Äußerung mit dem Erfolg durch Visitenkarten war ironisch gemeint. Es ist dann schade für mich, wenn man die Ironie nicht erkennt und es "nur" als naiv betrachtet.

Andererseits finde ich auch nichts Schlimmes an Naivität. Gefällt mir jedenfalls besser als Zynismus.
Mich beleidigt das also auch nicht, keineswegs! Sag ruhig alles, was dir dazu einfällt!

Ich werde also versuchen die ersten zwei-drei Teile schöner zu gestalten. Das kann noch ein bisschen dauern! Vielleicht meldest du dich ja dann noch einmal und sagst, ob es dir besser gefällt. Würde mich freuen.

("Die Erzählerin" fühlt sich noch nicht ganz fit :smile: ...)

Schönen Tag!
l

PS: Ich finde auch auf jeden Fall, das man die GEschichte verändern muss! Sie ist noch nicht fertig!

Mucki
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Beitragvon Mucki » 08.04.2009, 16:40

Hallo Louisa,

deine Story finde ich kurzweilig. Ich las sie, trotz der Länge, in einem Rutsch durch (versuchte dabei, meine "Lektorenaugen" auszuschalten aufgrund der vielen RS- und Grammatikfehler, was mir auch gelang), da mich die Episoden so gut unterhielten. Die Erzählerin kommt für mich auf eine charmante Art und Weise blauäugig und ziemlich crazy rüber. ;-) Die Situationen sind es ja auch, deshalb passt es für mich ganz gut.
Die 2. Visitenkarte gefällt mir am besten. Sehr plastisch, man hat als Leser alles gut vor Augen. Die Dialoge sind recht witzig. Nur solltest du hier ein paar Wiederholungen rausnehmen (das mit dem Lächeln und Zurücklächeln kommt wirklich zu oft vor z.B.) und die Absätze zwischen den Dialogen, die braucht es nicht.
Auch die Situation bei der 4. Visitenkarte hast du gut dargestellt. Man erlebt alles mit. Aber auch hier: viel zu viele Wiederholungen.
Also: kürzen und Fehler ausmerzen

Insgesamt hat mich deine Story amüsiert.

Saludos
Mucki

Louisa

Beitragvon Louisa » 08.04.2009, 18:20

Danke Gabriella!

die letzte und die zweite waren mir auch die wichtigsten. Ich versuche es wirklich noch zu kürzen und umzuschreiben.

Was bedeutet "kurzweilig" ?

Feinen Abend!
l

Mucki
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Beitragvon Mucki » 08.04.2009, 18:30

Hi Louisa,

kurzweilig ist das Gegenteil von langweilig. ,-)

Saludos
Mucki


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