
Denn die Mutter ist Gott in den Augen eines Kindes
1.
Ein Anfang
Es war wohl kaum mehr als eine Woche vergangen, da musstest du wieder in die Schule. Damals war das noch neu für dich: Jeden Morgen ganz pünktlich aufstehen, damit noch genug Zeit für das Frühstück blieb. Die Mama hatte es schon vorbereitet, selbstverständlich. Nach dem Essen sich anziehen. Wie sorgfältig hast du jedes einzelne Kleidungsstück ausgewählt! Die schwere Tasche (von der Mama gepackt) auf den Rücken gehievt und hinaus in den Morgen. Zur Schule.
Nein, mehr als eine Woche war es nicht, da musstest du wieder hingehen. Mit dem Unterschied, dass der Morgen dich nun nasskalt empfing. Die Luft war feuchter als daheim. Der Himmel, der dein ganzes, kurzes Leben lang ein strahlendes Blau von unendlicher Tiefe gezeigt hatte, war hier gräulich und fern.
Du hast dich trotzdem gefreut. Schule, das bedeutete für dich Freunde, bunte Farben, viele neue Spiele und eine blaue Uniform. Blau hat dir immer schon gefallen. Nun, die Uniform brauchtest du hier nicht mehr, das hatte die Mama dir erklärt. Wie im Kindergarten, da hattet ihr auch keine Uniform. Aber für den Kindergarten warst du jetzt schon zu groß.
Die Mama verabschiedete sich bereits vor dem neuen Klassenzimmer, anstatt noch mit hinein zu kommen. „Du schaffst das!“ und „Viel Spaß, mein Schatz!“, sagte sie noch. Dann warst du allein.
Erinnerung Ι
Das Klassenzimmer war nicht mehr neu für mich und auch die Uniform hatte ich fast schon vergessen. Das schöne Blau lag ordentlich zusammengefaltet ganz hinten im Schrank. Da liegt es auch jetzt noch, Jahre später. Aber ich erinnere mich. Der Tag war, wie die Monate davor, nasskalt, der Himmel grau und fern:
Gestern war Montag. Ich habe der Mama gesagt, ich sei krank und sie glaubte mir. Ich lag ganz viele Stunden im Bett, bevor ich fragte, ob meine Schwester bald nach Hause käme, und ob die Schule endlich vorbei sei. Die Mama hat ja gesagt. Da rannte ich mit dem Hund nach draußen in den Nieselregen, um im Sandkasten der Nachbarn mit Zigarettenstummeln zu spielen. Genau wie damals, am Strand. Aber das war gestern, und der Hund ist jetzt wieder in der Wohnung eingesperrt, wo die Mama in letzter Zeit so oft saß und malte oder schrieb. Ich weiß aber nicht, was.
Bild Ι
Ein Kind, etwa sechs Jahre alt, eher sieben. Es geht eine alte Straße entlang, die Häuserreihen lassen keinen Platz für Bäume. Das Fast-Weiß der Hauswände ist durch die Abgase der Autos längst grau geworden. Die dunkelbraunen Fensterrahmen unter dunkelbraun gedeckten Dächern sehen auf das Kind herab. Der Gehweg ist viel zu schmal, aber die Kinder der hiesigen Grundschule kennen es nicht anders.
Das Kind schließt die Augen, es sieht seine Mutter. Sie ist in ein Loch gefallen. Es ist nicht tief, aber sie kommt nicht mehr hinaus. Darum herum stehen Menschen, Leute. Das Kind kennt sie nicht, sie haben keine Gesichter. Warum helfen sie ihr nicht?
„Mama?“ – Erschrocken öffnet das Kind die Augen. Es beeilt sich, nach Hause zu kommen.
Liebe alltäglich
Ja, ihr großen Dichter
ihr hattet gut leiden
an der Welt
war einer von euch denn Mutter?
Ach, auch wir
spüren den tiefen Schmerz
und können doch nicht
wie ihr in ihm versinken
dürfen uns nicht
unter der Last des Leides beugen
aufrecht müssen wir gehen
aufrecht wollen wir stehen
vor unseren Kindern
Frau sein und Mutter
auf unseren Armen sie tragen
der Trauer, Verzweiflung
die Stirn zu bieten
diese Liebe alltäglich zu üben
erfordert die Zeit, erfordert die Welt.
2.
Rückblende
Du und deine Schwester, ihr wolltet Freunde einladen. Damals hattet ihr weitgehend die selben. Mehr als zehn Kinder tummelten sich schließlich in dem großen Garten. Ihr wolltet spielen und das tatet ihr auch, den ganzen Tag. Die Eltern nahmt ihr gar nicht mehr wahr, und die wiederum freuten sich so sehr über euer Lachen, dass sie euch in Frieden spielen ließen.
Es war Winter, die Sonne schien warm durch die gläserne Terrassentür. Der Zitronenbaum trug Früchte, wie er es das ganze Jahr über tat. Du und dein bester Freund, Johnny, lagt auf der von Sonnenstrahlen erhitzten Mauer vor der Treppe. Weißes Mädchen, schwarzer Junge. Die Mama machte ein Bild davon.
Heißer Staub wurde vom Wind ins Haus getragen, man konnte ihm nicht entkommen. Du liebtest diesen Geruch von Ferne und Abenteuer, den der Wüstensand mit sich trug. Schon damals wusstest du diese Begriffe zu verbinden, denn die aufregendsten Zeiten hattest du dort draußen erlebt. Später sagte man, du hättest einen außergewöhnlichen Wortschatz. Du dachtest immer, du hättest außergewöhnliche Erinnerungen.
Erinnerung ІІ
Der Tag war sonnig und warm, aber ich nahm es nicht wahr. Die Gewohnheit nimmt vielen Dingen ihre Bedeutung. Erst Jahre später erschien mir jeder dieser Momente einzigartig:
Wir waren in der Stadt und haben eingekauft. Da stand ein Mann mit ganz vielen bunten Ballons! Ich habe die Mama gefragt, ob ich einen haben darf und sie hat mir und der Schwester welche gekauft. Meiner war lila mit vielen weißen Sternen darauf. Mein Ballon war der schönste den ich je gesehen habe. Und er flog sogar von alleine, also hat die Mama ihn mir an einer Schnur um mein Handgelenk gebunden. Damit er nicht weg flog.
Genau deshalb habe ich die Schnur an den Stuhl auf der Terrasse geknotet, als ich der Mama gezeigt habe, von welchem Stern ich eigentlich komme. Und dann habe ich ihr erzählt, dass Pegasus mich früher immer zwischen den Sternen hin und her getragen hat. Früher, bevor ich geboren war.
Als ich am nächsten Morgen auf die Terrasse lief, war der Ballon fort.
Bild ІІ
Das Kind, vielleicht fünf oder sechs Jahre alt, sitzt in einem bunten Kindersitz auf dem Rücksitz eines großen, weißen Toyota Landcruisers. Neben ihm seine Schwester, vorne die Eltern.
Die Familie fährt an einem Park vorbei. Für einen Augenblick blitzt das verrostete Metall einiger Spielgeräte hinter dem Springbrunnen auf. Aber das Kind blickt jetzt nicht dorthin, denn am Straßenrand steht ein großes Schild. Die Glühbirnen flimmern bunt, zeigen eine Flagge. Die Farbfelder sind schräg: Blau, Weiß-Rot-Weiß, Grün. Auf dem Blau eine kreisrunde, gelbe Sonne mit zwölf Strahlen.
Mit einem ehrfürchtigen Gesichtsausdruck hebt das Kind eine Hand dorthin, wo man ihm sein Herz gezeigt hat. Die Schwester schläft. Staub wirbelt über die hier noch asphaltierte Straße.
Hymne
Namibia land of the brave
Freedom fight we have won
Glory to their bravery
Whose blood waters our freedom
We give our love and loyalty
Together in unity
Contrasting beautiful Namibia
Namibia our country
Beloved land of savannahs
Hold high the banner of liberty
Namibia our country
Namibia motherland
We love thee.
3.
Späteres
Die Musik spielte laut. Die dunklen Lieder hätten wohl nur wenigen außer denen, die da waren, gefallen. Das kaum vorhandene Licht zuckte in Ekstase: Rot, Weiß. Dazwischen ab und zu ein Spritzer von Gelb oder Grün. Du fühltest dich wohl unter diesen Leuten. Sie alle waren vorwiegend schwarz gekleidet, und kaum jemand hatte diese Nicht-Farbe mit einigen Tupfern tatsächlicher Farbe kontrastiert. Deine eigene Kleidung passte sich perfekt ein: Der dunkelrote Samtrock harmonierte elegant mit dem nadelgestreiften Oberteil. Das winzige Vorhängeschloss war dein Ersatz für die Nietenarmbänder, die vor längerer Zeit verloren gingen. An den Armen trugst du stattdessen enge, schwarze Satinhandschuhe. Solche hattest du dir schon lange gewünscht.
Zwei deiner Freunde waren da und einige Bekannte. Außerdem etliche Leute, die du nicht kanntest. Du hast viel getanzt an diesem Abend, denn der gute DJ legte auf. Und viel gelacht, denn entgegen der Vorstellung mancher Menschen ging es in der Szene recht fröhlich zu. Später am Abend habt ihr über Marx diskutiert.
Erinnerung ІІІ
Wir gingen spazieren. Das laute Grün der Bäume war an diesem Tag stumm. Der Schnee hatte eine friedliche Stille über das Niemandsland gelegt. Nur unsere Schritte knirschten im allgegenwärtigen Weiß. Wir hinterließen eine Spur, die niemand je sehen würde. Es war unsere ganz eigene Spur, unser Weg. Ohne Ziel wanderten wir zwischen den Hügeln entlang und pflegten das Vertrauen mit unserer wortlosen Unterhaltung.
Und wie wir dort die Zeit um uns herum vergaßen, merkte ich, dass ich an diesem Ort bleiben wollte. Ich fühlte mich sicher. Doch ich wusste und weiß auch jetzt, dass diese Sicherheit trügt. Schnee schmilzt und wenn das Grün erneut auflebt, werde ich wieder fliehen.
Ich wollte immer Kinder haben.
Bild ІІІ
Das Kind ist jetzt älter. Es liegt in einem schmalen Bett, neben ihm eine weitere Person. Das Zimmer ist dunkel, denn es ist Nacht. Durch das Fenster dringt ein wenig Rauch von der gegenüberliegenden Fabrik, doch das Kind achtet nicht darauf. Es ist soeben aufgewacht, die Hand der anderen Person fest in seiner eigenen haltend. Sie ist feucht von Tränen.
Das Kind sieht noch einmal den Traum: Es kommt von der Schule nach Hause, den Kopf gesenkt, wie schon damals. Es ist sehr unruhig, Sorge zeigt sich auf seinen Zügen, während es den kleinen Dorfplatz überquert. Es beeilt sich, nach Hause zu kommen.
Schon als es den Schlüssel zu dem großen Tor hervorholt, spiegelt sich die Gewissheit in seinen Augen: Etwas ist passiert. Beinahe rennend betritt es den großen Hof des Hauses. Die Mutter liegt bewusstlos auf dem Boden, sie scheint gestürzt zu sein. Neben ihr eine grüne Gießkanne. Die Haustür steht offen. Das Kind läuft zu ihr. Tränen rinnen seine Wangen hinab. Irgendwo in der Nähe muss doch der Freund der Mutter sein, sein Auto steht vor dem Haus. Offenbar hat er noch nichts bemerkt.
„Mama!“
Ohne Gewähr
Es ist ohne Gewähr mein Kind,
dass ich morgen noch bei Dir bin,
und wenn ich morgen noch bei Dir bin,
dass wir noch zusammen sind.
Selbst die Liebe mein Kind,
habe ich schon verrotten seh'n,
sah Mann und Frau, Mutter und Kind auseinander geh'n,
und auch Du bleibst nicht ewig blind.
Ich weiß nicht, mein Kind,
was ich Dir morgen noch geben kann,
weiß, dass so manches schon zwischen den Fingern zerrann
und Unfassliches oft gewinnt.
Es ist, mein Kind, auch ohne Gewähr,
dass Du selbst Dich im Leben gewinnst.
Wir hoffen und weben ein Traumgespinst
und wenn wir fallen, sind wir dafür zu schwer.
Du glaubst, das Leben sei ein Versprechen,
siehst Dich in Wolkenschlössern.
Ja, schwebe, solange es geht, auf Flügelrössern.
Allein ich ahne, Du wirst die Knochen Dir brechen.
Ach ich wollte, mein Liebstes, mein Kind,
ich könnte dir sagen,
auch dann bin ich da, Dich zu tragen.
Doch ich fürchte, ach wie ich fürchte, mein Kind
meinen Geist entreißt mir im Sturm der Wind.
Copyright: „Liebe alltäglich“ und „Ohne Gewähr“ mit freundlicher Genehmigung von Petra Katharina.
Die Nationalhymne Namibias schrieb Axali Doëseb.