Jackson
Das Verhängnis begann für Jackson an einem trüben, regnerischen Herbstabend, in einer öden Stadt, die nur gebaut worden war, um die Arbeiter der großen Fabrik aufzunehmen. Dort herrschte das Grau, dort herrschte der Beton und die Gleichgültigkeit derjenigen, die sich mit dem Nichts zufrieden gaben. Die gleichsam farblosen, weil von jeglicher Werbung befreiten oder mangels Interesse daran verschmähten Busse zogen auf immer denselben Bahnen durch die leeren Straßen und hielten schließlich so, als sei es für immer, vor den stummen Hochhäusern, die einen Himmel verdeckten, der aufgewühlt und dennoch undurchdringlich und voll mit grauen Regenwolken auf die ebenso graue Welt unter ihm blickte.
Auf Jacksons Welt.
Sicher, es gab auch einige Bäume in dieser Stadt, es gab sogar einen Kindergarten, gleich neben einer Bushaltestelle und es gab Menschen, die sich ineinander verliebten oder mit ihrem Hund noch mal kurz um den Block gingen, die von etwas Besserem träumten; Menschen, die beteten oder auch nur verhalten fluchten, bevor sie im dunklen Zimmer das Bett berührten, die kühlen Laken, den zähflüssigen Sirup der grauen Nacht atmeten, um sich und alles andere darin zu vergraben und zu vergessen.
Denn über all dem thronte das Grau; es thronte nicht im wörtlichen Sinn, es war einfach immer nur da - über dem regennassen Beton, den unzähligen Laubhäufchen, die der Wind zusammentrug, um sie kurze Zeit später doch anderswo hin zu fegen. Das Grau glotzte aus den Fenstern leerstehender Wohnungen, sickerte aus rostenden Auspuffen der wenigen Fahrzeuge, die auf den grauen Straßen unterwegs waren, und kroch selbst aus einigen Kanaldeckeln, um sich sodann im Grau des Himmels zu verlieren.
Das Grau war das einzig Wirkliche. Wirklicher als das Leben, das einen mitnahm, manchmal für ein paar Minuten mit fortnahm, für eine Stunde oder einen Tag, aber das war selten der Fall. Danach blieb wieder alles stehen unter dem Grau und das Leben ging woanders hin und ließ die Stadt und alles und jeden darin zurück. Bis irgendwann der große Schlaf kam, der Tod, wie ein Hauch, den man nicht spürt, weil er nicht so schmerzt wie das Leben.
Jackson mochte das Grau.
Bevor er an diesem Tag beschloss, sich dem Grau hinzugeben und das Haus zu verlassen, reckte er sich noch einmal ausgiebig. Danach schlüpfte er durch die schmale Tür, die sich hinter ihm schloss, und betrachtete einige Sekunden lang aufmerksam die dämmrige Umgebung. Er kannte alles hier, jeden Strauch, jedes Haus und selbst die meisten der hier wohnenden Menschen, obwohl er sicher war, dass ihn die wenigsten davon überhaupt schon einmal bemerkt hatten. Abends und nachts, wenn Jackson sich auf den Weg machte, verkrochen sie sich lieber in ihren grauen Häusern.
Jackson schüttelte unwirsch den Kopf, als er in den Nieselregen hinaus auf die leere Straße trat. Er mochte den Regen nicht und deshalb rannte er geduckt los, um unter der überdachten Bushaltestelle ein paar Meter weiter zunächst einen Unterschlupf zu finden. Dort setzte er sich hin und wartete geduldig darauf, dass es noch dunkler wurde und der Regen endlich aufhörte. Jackson hatte Geduld; er hatte schon früh gelernt, dass Geduld das Wichtigste für ein wirklich interessantes, abwechslungsreiches Leben ist. Doch während er geduldig und regungslos dasaß, beobachteten seine Augen alles, was um ihn herum vorging. Den leicht hin und her schwankenden Mann dort oben im vierten Stockwerk des Hochhauses, der ungeniert vom Balkon herab urinierte, behielt er ebenso im Blick wie die alte Frau, die mit ihrem blaugrauen Regenschirm an der Haltestelle vorüber eilte, ohne nach links und rechts zu blicken. Er horchte auf die leisen Worte, die sie vor sich hinmurmelte, bis der stärker werdende Wind sie verschluckte. Jackson verfolgte mit seinen Blicken den torkelnden Weg einer achtlos weggeworfenen und zum Spielzeug des Herbstwinds verdammten Coladose, bis sie zwischen Laub und durchnässten Zeitungen in der Ecke einer Einfahrt liegen blieb. Ebenso aufmerksam musterte er das Mädchen im grünen Mantel, als es aus einem Wagen stieg, der schräg gegenüber angehalten hatte. Sie trippelte mit unbeholfenen Schritten auf ihren hohen Absätzen zum Hochhaus, während sie den Mantelkragen hochzog und der Wagen unterdessen weiter fuhr. Sie verschwand hinter der quietschenden Eingangstür, aber Jackson hörte ihre Absätze noch unregelmäßig klacken, als sie die Treppe hinauf stolperte. Er wusste sogar, wo sie wohnte, und gleich darauf wurde eines der dunklen Vierecke hell.
Sie war zuhause.
Der alte Penner hingegen, der mit seinen Plastiktüten um die Ecke bog, um sich irgendwo im Grau eine Bleibe für die Nacht zu suchen, würde nirgendwo mehr zu Hause sein. Vielleicht hatte er Glück und fand ein trockenes Plätzchen, um dort den Wermut in sich hineinfließen zu lassen. Wahrscheinlicher war, dass er sich wie in den Nächten zuvor in einer der dunklen Seitenstrassen zwischen den Mülltonnen verkroch, die ohnehin nicht mehr geleert wurden, weil es dort schon lange keine Bewohner mehr gab, die ihren Müll hinterließen. Jackson beobachtete ihn emotionslos, bis er in eine Seitenstraße einbog und von der Dunkelheit verschluckt wurde.
Es war alles so, wie es immer war.
Aber im selben Moment dachte er wieder an Mona und schlagartig verspannte sich sein Körper. Er stand auf und schloss die Augen bis auf einen kleinen Schlitz. Die Erregung packte ihn; er gab sich ihr hin und genoss es zu spüren, wie sein Schwanz anfing, hin und her zu zucken und sich dann, immer noch zuckend, steil nach oben aufrichtete. Jackson knurrte unwillkürlich, während ihr Bild vor seinen fast geschlossenen Augen verlockende Konturen annahm.
Mona. Seine Mona...
Jackson schloss seine Augen gänzlich und gab sich seinen Phantasien hin. Er hatte schon viele in den letzten Jahren gehabt; Wilde, Kleine, Verzweifelte, Tobende – sogar eine überaus kräftige Rothaarige, die ihn fast umgebracht hatte, weil sie sich so verzweifelt dagegen gewehrt hatte. Am Ende hatte er sie alle genommen, hatte immer bekommen, was und wie er wollte. Eine war dabei verblutet, eine andere danach vollkommen kopflos in einen vorbeifahrenden Bus gerannt. Aber bekommen hatte er alle.
Alle, bis auf Mona.
Irgendwann später, inzwischen hochgradig von purer, ungezügelter Lust erfüllt, öffnete Jackson die Augen wieder. Der Regen hatte sich unbemerkt irgendwo im Grau verloren, einfach aufgehört, und so machte sich Jackson entschlossen und so rasch er konnte auf den Weg zu ihr. Er musste sie endlich haben, die Kleine, die erst vor zwei Monaten das Grau dieser Stadt in ein lockendes Versprechen verzaubert hatte. Es wurde höchste Zeit, dieses endlich einzulösen. Und er, Jackson, würde sie dazu zwingen, das stand für ihn bereits fest, als er sie das erste Mal gesehen hatte.
Das schäbige Haus, in dem Mona mit ihrer Großfamilie lebte, befand sich abseits der Hochhäuser, fast schon am Stadtrand gelegen und war das letzte in der Straße, die direkt am aufgeschotterten Bahndamm endete. Eigentlich war es gar kein richtiges Haus, eher eine Baracke, welche aus alten, teilweise morschen Holzbalken und –latten bestand und mit einem Blechdach und kleinen Fenstern versehen war, hinter denen schmutziggraue Vorhänge hingen. Ein jammervolles Bild der Armut. Jackson wusste, dass alle Menschen in dieser Straße Asylanten waren. Kaum ein Einheimischer verirrte sich hierher, abends und nachts schon gar nicht. Ihm konnte es nur recht sein. Für das, was er heute Nacht noch tun würde, ja tun musste, wollte er ungesehen bleiben.
Das erste Mal hatte er sie an einem der kleinen Fenster sitzen sehen, als er wie so oft unterwegs war, um ein Opfer zu suchen. Sie hatte ihn nicht bemerkt, als er auf der anderen Straßenseite im Schutz tiefhängender Birkenzweige stand und sie anstarrte. Die schwarzen Haare ließen ihr weißes Gesicht zu einem leuchtenden Magnet werden, der seine Blicke magisch anzog. Sie hatte die Augen halb geschlossen und saß einfach nur maliziös und regungslos am Fenster, ohne auf ihre Umgebung zu achten. Jackson schätzte sie auf vierzehn, vielleicht fünfzehn Jahre. Eigentlich schon etwas zu alt dafür, aber was ihr Gesicht, ihr Körper versprach, ließ ihn darüber hinweg sehen. Über eine Stunde lang hatte er sie nur angestarrt, während sein Schwanz wie besessen zuckte und danach schrie, sie zu nehmen. Dann wurde die Haustür aufgerissen und einige Kinder liefen heraus, um laut schreiend unter der trüben Laterne, die einige Häuser davor stand, um einen Ball zu streiten. Mona verschwand plötzlich vom Fenster, aber sie kam nicht aus dem Haus. Jackson wartete noch eine halbe Stunde, dann, als der erste Zug vorbeiratterte, machte er sich enttäuscht auf den Heimweg. Aber er hatte sie gesehen und beschlossen, wiederzukommen. Und obwohl er ihren richtigen Namen nicht einmal kannte, war sie seitdem für ihn Mona.
Regelmäßig hatte er im Schutz der Dunkelheit vor dem Haus gestanden, aber er sah sie nur noch ein einziges Mal, etwa eine Woche danach, an einem anderen Fenster sitzen. Genauso regungslos, unnahbar und wunderschön. Er hatte sogar mit dem Gedanken gespielt, sie zu vergessen, sich wieder anderen, jüngeren zuzuwenden, aber mittlerweile spielten die Gedanken mit seinem Körper, wenn er nicht an sie dachte. Und wenn er dann an sie dachte, wurde Jackson zum Raubtier.
Seine Mona.
Die Birke hatte inzwischen ihre Blätter hergegeben, sie ausgespuckt in das Grau der Stadt und reckte nur noch kahle, schwarze Äste in den Nachthimmel. Auch die Laterne war verschwunden; an ihrer Stelle befand sich jetzt ein tiefes Loch, in dem sich das Regenwasser gesammelt hatte und daneben lag noch der Aushub; mitten auf dem Gehweg und breit getrampelt von Kinderfüßen, deren schmutzige Spuren bis in die Häuser hinein sichtbar waren.
Und es stank nach Ratten in dieser Straße.
Nach Ratten, die – wie Jackson sehr wohl wusste – sich in der Kanalisation am Abwasser aufwärmten, unzählige Junge warfen und dann gemeinsam auf die Jagd gingen; hinein in die verwahrlosten, von stinkendem Müll und Unrat übersäten Gärten, die sich hinter den Häusern verbargen. Jackson hasste die flinken, aggressiven Allesfresser und ging ihnen lieber aus dem Weg. Aber Mona wohnte hier und so nahm er ihre unsichtbare Gegenwart in Kauf, als er um das große Loch herum schlich und dabei misstrauisch einen Blick hinein warf. Er lief geduckt über die Straße und blieb dann unter der Birke stehen. Die Fenster der Baracke waren erleuchtet, aber Mona saß an keinem von ihnen. Jackson roch den aufdringlichen Duft von Gebratenem, das viel zu scharf gewürzt worden war, um schmecken zu können. Aus dem Blechrohr im Dach der Baracke quoll beißender Rauch und wurde von einer Windbö bis auf den Boden herunter gedrückt. Irgend jemand schrie in einer unbekannten, gutturalen Sprache und eine andere, noch lautere Stimme brüllte zurück. In Monas Haus begann ein Kleinkind zu wimmern und der erste Güterzug des Abends stampfte auf dem Bahndamm entlang und hüllte dabei alles auf seinem Weg in eine nach Dieselöl und Abgas stinkende Wolke.
Jackson wartete geduldig, während seine Erregung wieder zunahm. Er stand neben der Birke und ließ seine Blicke wie hypnotisierend zwischen den Fenstern der Baracke hin und her gleiten. Irgendwann würde sie heraus kommen. Jeder musste einmal aus dem Haus. Auch Mona. Seine Mona, aber das konnte sie nicht wissen. Bald würde sie es wissen, erklärte ihm sein Schwanz in der ihm eigenen, eindeutigen Sprache.
Sie würde es wissen, sobald sie das Haus verließ.
Als der nächste Zug vorbei fuhr, öffnete sich tatsächlich die Tür der Baracke. Im Lichtschein einer nackten Glühlampe, die von der Decke hing, konnte Jackson gut erkennen, dass es ein Mädchen war, das ins Freie trat. Eines der vielen Kinder dieser Familie. Sie weinte, schluchzte und schrie irgend etwas Unverständliches nach hinten durch die geöffnete Tür. Eine raue Männerstimme brüllte zurück und während Jackson sich vorsichtig hinter den Stamm der Birke zurück zog, tauchte der Besitzer der Stimme im Türrahmen auf. Er war groß, breitschultrig und als er vor der Tür stand, ohne das aufgebracht kreischende Mädchen zu beachten, das mit beiden Fäusten auf ihn einzuschlagen begann, erkannte Jackson, dass sich der Mann etwas unter den linken Arm geklemmt hatte und in der rechten Hand einen Blechkanister trug, den er schützend zwischen sich und das wütende Mädchen hielt. Der schwankende Kanister verbarg zunächst, was der Mann unter dem Arm festgeklemmt hielt, aber als er sich nach rechts abwandte und mit großen Schritten dem Loch entgegen eilte, erkannte Jackson mit Entsetzen, dass das leblose Bündel Mona war.
Sie war tot.
Ihr Kopf musste mit brutaler Gewalt abgerissen worden sein und baumelte bei jedem Schritt hin und her, er schien nur noch an einem Fetzen Haut mit dem Körper verbunden zu sein. Vielleicht war er auch zur Gänze abgetrennt worden und nur die langen Haare, zwischen dem Arm des Mannes und Monas totem Körper eingeklemmt, hielten ihn an Ort und Stelle. Jackson sah, dass der pendelnde Kopf nur noch ein Auge besaß – ein totes Bernsteinauge, in dem sich ab und zu ein winziger Lichtreflex fing. Das andere Auge war nur noch eine kleine, leere und schwarze Höhle. Und während der Mann das Loch erreicht hatte und das Mädchen hinter ihm weiter verzweifelt auf ihn einschlug, fasste Jackson einen Entschluss.
Der Mann hatte ihm Mona genommen. Seine Mona.
Jackson knurrte, verzerrte sein Gesicht zu einer raubtierhaften Fratze und rannte los. Mona lag in der Zwischenzeit schon in der Grube, ganz unten in diesem hässlichen Loch, einfach weggeworfen wie ein Stück Abfall. Ihr Mörder hatte sich davor hingekniet und schraubte den Kanister auf, unbeeindruckt von dem Mädchen, das schreiend und mit geballten kleinen Fäusten auf seinen breiten Rücken einschlug. Ein Fenster im Nachbarhaus wurde aufgerissen und eine Frau mit einem schwarzem Kopftuch beugte sich heraus. Aber als ihr der Mann mit dem Kanister etwas zuzischte, schloss sie es schnell wieder. Jackson sah, dass sie hinter dem Vorhang stehen blieb und weiter beobachtete, was sich auf der Straße abspielte. Der Mann hatte den Verschluss des Kanisters aufgedreht und schüttete dessen Inhalt in das Loch. Eine farblose Flüssigkeit gurgelte aus der Öffnung und verschwand plätschernd in der Grube.
Jackson fauchte laut, während er die letzten Meter zurücklegte. Das Mädchen hörte ihn zuerst und drehte sich um. Verblüfft hörte sie auf mit dem Schreien und Schlagen und starrte stattdessen mit weit aufgerissenen Augen auf ihn. Irritiert wandte sich der Mann ebenfalls um. Als Jackson ihn ansprang, ließ er den Kanister fallen. Er verschwand polternd in dem Loch, in dem die tote Mona in einer Pfütze aus schmutzigem Wasser und Superbenzin lag. Bedeckt mit einem zerbeultem Blechkanister, auf dem ein ehemals weißer, jetzt fast bis zur Unkenntlichkeit abgeblätterter Totenschädel höhnisch grinste. Das Mädchen schrie noch lauter als zuvor, als Jackson seine ausgefahrenen Krallen in den Nacken des Mannes bohrte. Der Überraschte schrie vor Schmerz auf und versuchte, Jackson mit einer Hand von sich abzuschütteln, wobei seine Wunden noch tiefer und größer wurden. Seit Blut vermischte sich mit Jacksons Speichel, als dieser noch einmal kräftig zubiss.
Jackson kämpfte für Mona. Für eine bereits tote, mit abgetrenntem Kopf in einer Benzinlache liegende Mona, welche die Absurdität seines Handelns gar nicht mehr mitbekam.
Es war sinnlos und Jackson wusste es in dem Moment, als der Mann mit beiden Händen nach ihm griff und ihn mit einem wütenden Schrei von sich wegriss. Jackson flog, sich mehrfach überschlagend, durch die benzingeschwängerte Luft und landete dann auf allen Vieren direkt auf dem Kanister. Bevor er sich aufrichten konnte, um sofort wieder aus der Grube zu springen, rutschte der Blechkanister zur Seite und gab den Blick auf Monas zerfetzten Körper frei.
Jackson erstarrte mitten in der Bewegung.
Oben riss der Mann ein Zündholz an. Mona war keine Kätzin. Oben schrie das Mädchen gellend auf. Mona war auch nicht tot. Oben flackerte das Streichholz im Wind. Ein Plüschtier kann nicht sterben. Aber ein törichter alter grauer Kater, der sich wie ein Idiot verhielt. Oben fraß sich der Tod durch ein dünnes Holzstück und fiel mit ihm zusammen nach unten.
Jackson starb, den Blick auf ein zerrissenes Kinderspielzeug gerichtet, in einer Stichflamme, die irgendwo im Grau endete.
Jackson
Hallo Erich,
erstmal nur eine kurze Notiz: Der Text ist bis auf wenige Stolperstellen sehr angenehm zu lesen, nimmt einen mit, macht auf die kommenden Zeilen neugierig, ist lebendig und stimmungsvoll. Insgesamt kommt er mir aber für einen "Pointentext", bei dem - ähnlich einem Witz - eine bestimmte Erwartungshaltung aufgebaut und am Ende zerstört wird, etwas zu lang vor. Dass du den Leser so lange "Austricksen" kannst - auch wenn man doch irgendwann anfängt, Verdacht zu schöpfen - ist zwar eindrucksvoll, aber vielleicht könnte man das Gewicht etwas von diesem Punkt weg verlagern?
Trotzdem macht der Text insgesamt richtig schlechte Laune, womit er jedenfalls gelungen ist
.
Viele Grüße
Merlin
erstmal nur eine kurze Notiz: Der Text ist bis auf wenige Stolperstellen sehr angenehm zu lesen, nimmt einen mit, macht auf die kommenden Zeilen neugierig, ist lebendig und stimmungsvoll. Insgesamt kommt er mir aber für einen "Pointentext", bei dem - ähnlich einem Witz - eine bestimmte Erwartungshaltung aufgebaut und am Ende zerstört wird, etwas zu lang vor. Dass du den Leser so lange "Austricksen" kannst - auch wenn man doch irgendwann anfängt, Verdacht zu schöpfen - ist zwar eindrucksvoll, aber vielleicht könnte man das Gewicht etwas von diesem Punkt weg verlagern?
Trotzdem macht der Text insgesamt richtig schlechte Laune, womit er jedenfalls gelungen ist

Viele Grüße
Merlin
Zuletzt geändert von Mnemosyne am 14.01.2009, 15:45, insgesamt 2-mal geändert.
Hallo Erich,
ich will mal versuchen, meinen Eindruck von deinem Text irgendwie in Worte zu fassen.
Nach dem ersten Lesen hat er mir sehr gut gefallen. Hätte ich gleich danach einen Kommentar geschrieben, wäre der sehr positiv gewesen. Mir gefiel wie du die Stimmung dieser grauen und trostlosen Stadt und ihrer armen Bewohner geschildert hast. Ich verfolgte diesen Jackson auf seinem sinistren Weg. Bei der Stelle mit dem Schwanz, der sich nach oben stellt, kam mir zum ersten Mal Gedanke, bei Jackson könnte es sich um einen Kater handeln - spätestens bei dem Angriff auf den Mann war es mir dann klar (andere werden es bestimmt schon viel früher vermutet haben).
Und dann das makabre Ende von Jackson.
Alles in Allem ein guter Text mit einer witzigen Pointe.
Aber wie das halt so ist, wenn man Texten gerne auf den Grund geht, man liest nicht nur einmal. Vor allem dann, wenn das Konzept eines Textes so durchschaubar ist, so sehr auf eine Pointe hin aufgebaut, interessiert es mich dann, wie gut dieses Konzept gestaltet ist. Und da stößt man bei deinem Text dann doch auf so einige Punkte, die den anfänglich guten Eindruck ein wenig trüben.
Einen möchte ich anführen: Die Erzählperspektive. Die Satdt wird ja aus rein menschlicher Sicht beschrieben. es ist keine Katzenwahrnehmung. Das kann ja auch nicht anders sein, denn Ziel dieses Textes ist die Irreführung. Der Leser soll so lange wie möglich denken, dass es sich bei Jackson um einen Menschen handelt, einen Triebtäter, der darauf aus ist, ein junges Mädchen in seine Gewalt zu bekommen. Und so ist der Blick stets auf die Menschen der Stadt gerichtet, bis zu dem Zeitpunkt, an dem Mona auf der Bildfläche erscheint. Erst jetzt wird Jackson allmählich zum Kater, bleibt aber in seiner Wahrnehmung natürlich bis zu seinem Ende eigentlich ein Mensch, bis zu seinem Tod.
Worin liegt nun der Witz der Geschichte? Eigentlich nur in der Tatsache, dass Jackson ein Kater ist. D.h. heißt der Überraschungseffekt erschöpft sich völlig in dieser einen Tatsache. Weitere Überraschungen wird man in dem Text nicht finden. Er wird also nur durch diesen einen Aspekt bis ins letzte Durchschaubar. Und damit ist er, wie Merlin schon sagte, einfach zu lang, vieles ist im Hinblick auf die Pointe einfach überflüssig.
Ich muss an den Film Sixth Sense denken. Auch dieser ist auf eine Pointe aufgebaut. Aber der Film wird trotzdem nicht uninteressant, wenn man ihn ein zweites oder drittes Mal sieht. Weil man einfach nur fasziniert ist von der Konstruktion, der perfekten Täuschung, die aber nicht auf einer einfachen Umstülpung beruhrt (wie bei deinem Text: Mensch/Tier), sondern darauf, dass das unglaubliche glaubhaft dargestellt wird. Bemerkenswert bei diesem Film sind am Ende die Dinge, die nicht gezeigt werden, ihr Fehlen, obwohl sie eigentlich doch vorhanden sein müssten. Aber gerade das macht die Illusion aus. Sieht man den Protagonisten als Untoten oder als Lebenden - es ist immer stimmig.
Diese Zweigleisigkeit ist bei deinem Text nicht zu finden. Er kann nur funktionieren, indem du Jackson die Welt wie einen Menschen erleben lässt. Katzenhaftes ist zwar eingestreut, sticht aber beim wiederholten Lesen sofort heraus.
Fazit: ein gut geschriebener, plastischer Text mit einer guten Pointe, der aber nach dem ersten Lesen seine Faszinition verliert.
Liebe Grüße
Sam
ich will mal versuchen, meinen Eindruck von deinem Text irgendwie in Worte zu fassen.
Nach dem ersten Lesen hat er mir sehr gut gefallen. Hätte ich gleich danach einen Kommentar geschrieben, wäre der sehr positiv gewesen. Mir gefiel wie du die Stimmung dieser grauen und trostlosen Stadt und ihrer armen Bewohner geschildert hast. Ich verfolgte diesen Jackson auf seinem sinistren Weg. Bei der Stelle mit dem Schwanz, der sich nach oben stellt, kam mir zum ersten Mal Gedanke, bei Jackson könnte es sich um einen Kater handeln - spätestens bei dem Angriff auf den Mann war es mir dann klar (andere werden es bestimmt schon viel früher vermutet haben).
Und dann das makabre Ende von Jackson.
Alles in Allem ein guter Text mit einer witzigen Pointe.
Aber wie das halt so ist, wenn man Texten gerne auf den Grund geht, man liest nicht nur einmal. Vor allem dann, wenn das Konzept eines Textes so durchschaubar ist, so sehr auf eine Pointe hin aufgebaut, interessiert es mich dann, wie gut dieses Konzept gestaltet ist. Und da stößt man bei deinem Text dann doch auf so einige Punkte, die den anfänglich guten Eindruck ein wenig trüben.
Einen möchte ich anführen: Die Erzählperspektive. Die Satdt wird ja aus rein menschlicher Sicht beschrieben. es ist keine Katzenwahrnehmung. Das kann ja auch nicht anders sein, denn Ziel dieses Textes ist die Irreführung. Der Leser soll so lange wie möglich denken, dass es sich bei Jackson um einen Menschen handelt, einen Triebtäter, der darauf aus ist, ein junges Mädchen in seine Gewalt zu bekommen. Und so ist der Blick stets auf die Menschen der Stadt gerichtet, bis zu dem Zeitpunkt, an dem Mona auf der Bildfläche erscheint. Erst jetzt wird Jackson allmählich zum Kater, bleibt aber in seiner Wahrnehmung natürlich bis zu seinem Ende eigentlich ein Mensch, bis zu seinem Tod.
Worin liegt nun der Witz der Geschichte? Eigentlich nur in der Tatsache, dass Jackson ein Kater ist. D.h. heißt der Überraschungseffekt erschöpft sich völlig in dieser einen Tatsache. Weitere Überraschungen wird man in dem Text nicht finden. Er wird also nur durch diesen einen Aspekt bis ins letzte Durchschaubar. Und damit ist er, wie Merlin schon sagte, einfach zu lang, vieles ist im Hinblick auf die Pointe einfach überflüssig.
Ich muss an den Film Sixth Sense denken. Auch dieser ist auf eine Pointe aufgebaut. Aber der Film wird trotzdem nicht uninteressant, wenn man ihn ein zweites oder drittes Mal sieht. Weil man einfach nur fasziniert ist von der Konstruktion, der perfekten Täuschung, die aber nicht auf einer einfachen Umstülpung beruhrt (wie bei deinem Text: Mensch/Tier), sondern darauf, dass das unglaubliche glaubhaft dargestellt wird. Bemerkenswert bei diesem Film sind am Ende die Dinge, die nicht gezeigt werden, ihr Fehlen, obwohl sie eigentlich doch vorhanden sein müssten. Aber gerade das macht die Illusion aus. Sieht man den Protagonisten als Untoten oder als Lebenden - es ist immer stimmig.
Diese Zweigleisigkeit ist bei deinem Text nicht zu finden. Er kann nur funktionieren, indem du Jackson die Welt wie einen Menschen erleben lässt. Katzenhaftes ist zwar eingestreut, sticht aber beim wiederholten Lesen sofort heraus.
Fazit: ein gut geschriebener, plastischer Text mit einer guten Pointe, der aber nach dem ersten Lesen seine Faszinition verliert.
Liebe Grüße
Sam
Hallo Erich,
nachdem ich diesen Satz gelesen hatte, war mir klar, Jackson ist ein Kater,
da ich gleich an diese Klapptürchen für Katzen dachte. Ja, Merlin und Sam schrieben es bereits. Auch mir ist der Anfang zu lang. Diese graue Stimmung erzeugst du bereits gut und anschaulich durch die Anfangszeilen. Sie braucht nicht im Laufe des Textes wiederholt zu werden.
Und der andere Punkt ist das zu sehr Vermenschlichte, bzw. total Vermenschlichte der Geschichte.
Du kannst diese Perspektive einfließen lassen, aber nicht zu viel davon. Kleine verwirrende Ansätze, die vermenschlicht "wirken", wären gut, aber nicht mehr.
Sätze wie u.a. diese:
passen da nicht.
Klar, der Leser soll die ganze Zeit denken, da ist ein Killer oder sowas auf Suche nach Beute, doch diese Rechnung geht nach meiner Sicht nicht auf.
Ich frage mich übrigens, warum Jackson keine Ratten mag.
Du kannst gut schreiben, sehr bildhaft, erzeugst die Stimmung, die du erzeugen möchtest. Das Setting gelingt dir, keine Frage, doch hier hapert es am Plot.
Saludos
Gabriella
nachdem ich diesen Satz gelesen hatte, war mir klar, Jackson ist ein Kater,
reckte er sich noch einmal ausgiebig. Danach schlüpfte er durch die schmale Tür, die sich hinter ihm schloss
da ich gleich an diese Klapptürchen für Katzen dachte. Ja, Merlin und Sam schrieben es bereits. Auch mir ist der Anfang zu lang. Diese graue Stimmung erzeugst du bereits gut und anschaulich durch die Anfangszeilen. Sie braucht nicht im Laufe des Textes wiederholt zu werden.
Und der andere Punkt ist das zu sehr Vermenschlichte, bzw. total Vermenschlichte der Geschichte.
Du kannst diese Perspektive einfließen lassen, aber nicht zu viel davon. Kleine verwirrende Ansätze, die vermenschlicht "wirken", wären gut, aber nicht mehr.
Sätze wie u.a. diese:
Jackson hatte Geduld; er hatte schon früh gelernt, dass Geduld das Wichtigste für ein wirklich interessantes, abwechslungsreiches Leben ist.
Der alte Penner hingegen, der mit seinen Plastiktüten um die Ecke bog, um sich irgendwo im Grau eine Bleibe für die Nacht zu suchen, würde nirgendwo mehr zu Hause sein. Vielleicht hatte er Glück und fand ein trockenes Plätzchen, um dort den Wermut in sich hineinfließen zu lassen. Wahrscheinlicher war, dass er sich wie in den Nächten zuvor in einer der dunklen Seitenstrassen zwischen den Mülltonnen verkroch, die ohnehin nicht mehr geleert wurden, weil es dort schon lange keine Bewohner mehr gab, die ihren Müll hinterließen. Jackson beobachtete ihn emotionslos, bis er in eine Seitenstraße einbog und von der Dunkelheit verschluckt wurde.
passen da nicht.
Klar, der Leser soll die ganze Zeit denken, da ist ein Killer oder sowas auf Suche nach Beute, doch diese Rechnung geht nach meiner Sicht nicht auf.
Ich frage mich übrigens, warum Jackson keine Ratten mag.
Du kannst gut schreiben, sehr bildhaft, erzeugst die Stimmung, die du erzeugen möchtest. Das Setting gelingt dir, keine Frage, doch hier hapert es am Plot.
Saludos
Gabriella
Vielen Dank für eure Meinungen. Den Plot aus der Sicht einer Katze zu schreiben, scheint mir nicht möglich zu sein. Ich kenne keine Katze, die mir schildern könnte, wie sie die Welt sieht ...
Zum Hintergrund:
Diese Erzählung entstand im Jahr 2007 und wurde für den Literaturwettbewerb „Vom Sterben“ des Literaturportals inlitera geschrieben. Die dortige Jury war nicht der Meinung, dass es „am Plot hapert“, sondern wählte Jackson auf den 1. Platz. Man sieht, die Geschmäcker und Beurteilungskriterien sind verschieden, aber gerade das macht ja Literatur so spannend.
Zum Hintergrund:
Diese Erzählung entstand im Jahr 2007 und wurde für den Literaturwettbewerb „Vom Sterben“ des Literaturportals inlitera geschrieben. Die dortige Jury war nicht der Meinung, dass es „am Plot hapert“, sondern wählte Jackson auf den 1. Platz. Man sieht, die Geschmäcker und Beurteilungskriterien sind verschieden, aber gerade das macht ja Literatur so spannend.
Hallo Erich,
ja, Geschmack und vor allem die Beurteilungskriterien sind glücklicherweise verschieden. Aber was meinst du mit "Hintergrund"?
Es ist unmöglich für einen Menschen (wirklich) aus einer anderen Sicht als der des Menschen zu schreiben (erzählen), da hast du recht. Aber dennoch ist der Text genau so angelegt. Und die Idee ist doch, sich in eine mögliche Gedankenwelt eines Katers - aus menschlicher Perspektive - hinein zu versetzen. Welchen Sinn ergäbe sonst die Wahl eines Katers als Protagonisten?
Ich schließe mich den Kritikpunkten der anderen Schreiber an. Auf jeden Fall ein schöner Schreibfluss.
Grüße,
Y.
ja, Geschmack und vor allem die Beurteilungskriterien sind glücklicherweise verschieden. Aber was meinst du mit "Hintergrund"?
Es ist unmöglich für einen Menschen (wirklich) aus einer anderen Sicht als der des Menschen zu schreiben (erzählen), da hast du recht. Aber dennoch ist der Text genau so angelegt. Und die Idee ist doch, sich in eine mögliche Gedankenwelt eines Katers - aus menschlicher Perspektive - hinein zu versetzen. Welchen Sinn ergäbe sonst die Wahl eines Katers als Protagonisten?
Ich schließe mich den Kritikpunkten der anderen Schreiber an. Auf jeden Fall ein schöner Schreibfluss.
Grüße,
Y.
Hallo Erich,
Na, dieses Argument kann ich aber nicht gelten lassen. *lach*
Und klar, Beurteilungskriterien sind immer unterschiedlich. Du kennst den Spruch von Winston Churchill: "Wenn zwei immer der gleichen Meinung sind, ist einer überflüssig".
In diesem Sinne ,-)
Gabriella
Den Plot aus der Sicht einer Katze zu schreiben, scheint mir nicht möglich zu sein. Ich kenne keine Katze, die mir schildern könnte, wie sie die Welt sieht ...
Na, dieses Argument kann ich aber nicht gelten lassen. *lach*
Und klar, Beurteilungskriterien sind immer unterschiedlich. Du kennst den Spruch von Winston Churchill: "Wenn zwei immer der gleichen Meinung sind, ist einer überflüssig".
In diesem Sinne ,-)
Gabriella
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